Die Bedeutung solcher Modellierungen erläutert Dr. Jürgen Rissland, Oberarzt des Instituts für Virologie am Homburger Universitätsklinikum: „Wir stehen bei SARS-CoV-2 immer noch am Anfang.“ Es gibt gegenwärtig keinen marktreifen Impfstoff, die medikamentöse Behandlung steckt noch in den Kinderschuhen und auch der Nachweis einer Immunität ist für die Wissenschaft eine Herausforderung. „Daher sind die gesellschaftlichen Interventionen wie beispielsweise die Schließung von Schulen, Kontakt- und Ausgangsregelungen aber auch eine Maskenpflicht die Optionen, mit denen eine Weiterverbreitung des Virus eingedämmt werden kann.“ Eine Modellierung hilft dann dabei, verschiedene Szenarien zu simulieren und somit letztendlich bei der Entscheidung, wann welche Maßnahmen eingesetzt oder auch wieder abgesetzt werden können.

Auch im saarländischen Modell ist die sogenannte Basisreproduktionszahl, der R0-Wert, eine zentrale Kennzahl. Sie gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Ist der Wert kleiner als 1, sinkt die Zahl der Infizierten. Steigt die Basisreproduktionszahl über 1, erhöhen sich die Infektionszahlen exponentiell. Derzeit geht man im Saarland von einem Wert unter 1 aus. „Das legt nahe, dass die Maßnahmen in der Vergangenheit geholfen haben, denn der Wert lag im Saarland vor Beginn der Interventionen beispielsweise im März bei über 4“, erklärt Dr. Rissland. „Der R0-Wert hat sich so stark geändert, dass wir diese Änderung als hochsignifikant werten. Das heißt, die Veränderung ist so deutlich, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die getroffenen Maßnahmen zurückzuführen ist – nicht auf andere Effekte“, ergänzt Professor Lehr.

Die Modellierung hilft vor allem aber bei dem Blick voraus: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berechnen verschiedene Szenarien. Für einen Vier-Wochen-Zeitraum wird modelliert, wie sich die Fallzahlen entwickeln könnten – die Szenarien reichen dabei von einer weiteren Verringerung der Fälle bis hin zu möglichen Anstiegen. Diese Voraussagen können Entscheidern in unterschiedlichen Bereichen helfen – der Landesregierung bei Interventionsmaßnahmen oder Krankenhäusern bei der Ressourcenplanung. Das Modell wird auch zukünftig weiter angepasst und verbessert. Es ist zudem angedacht, eine Online-Plattform zu schaffen, mit der die Vorhersagen für alle Bundesländer öffentlich zur Verfügung gestellt werden können.

Professor Lehr und die Virologen am Universitätsklinikum sind sich einig, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens hilfreich waren. Die Auswirkungen der kürzlich getroffenen Lockerungsmaßnahmen seien allerdings weiterhin noch nicht eindeutig abschätzbar. „Für eine Entwarnung besteht aktuell noch kein Anlass“, so Dr. Rissland. „Wir müssen weiterhin vorsichtig bleiben, die Entwicklung der Fallzahlen im Blick behalten und immer wieder neu bewerten, welche Entscheidungen die Situation erfordert.“

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