Rund 25 Prozent der Bevölkerung sind latent mit Tuberkulose infiziert, tragen also den Erreger in sich, ohne krank zu werden. Ob daraus eine aktive Infektion wird, war bisher schwer vorhersagbar. Ein internationales Forscherteam hat nun ein Tool entwickelt, das diese Vorhersage deutlich vereinfacht. Daran beteiligt ist auch Martina Sester, Professorin für Transplantations- und Infektionsimmunologie an der Saar-Uni. Die Studie wurde nun im renommierten Fachjournal „Nature Medicine“ publiziert.
Die Tuberkulose, eine Infektionskrankheit, die noch vor wenigen Jahrzehnten auch in Mitteleuropa zahlreiche Opfer forderte, ist zwar aus dem Bewusstsein vieler Menschen in den Industriestaaten verschwunden In Deutschland liegt die Inzidenz derzeit unter 20 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern. Dennoch gilt die Krankheit, die vom Mycobakterium tuberculosis verursacht wird, nach wie vor als eine der tödlichsten Infektionskrankheiten der Welt, die insbesondere in Afrika und Asien verbreitet ist. Fachleute gehen davon aus, dass zirka ein Viertel bis ein Drittel der Weltbevölkerung den Erreger in sich trägt. Nur bei einem Bruchteil davon, zwischen 5 und 10 Prozent, kommt es im Laufe des Lebens zu einer aktiven Infektion, die sich in den allermeisten Fällen in Form einer Lungentuberkulose zeigt und die, unbehandelt, vielfach schwer verlaufen und bis hin zum Tod der Erkrankten führen kann.
Dass die Krankheit in Europa soweit eingedämmt werden konnte, ist einerseits ein Erfolg, der auf verbesserten Lebenssituationen und effektiven Medikamenten beruht, andererseits auf gut nachverfolgbaren Infektionsketten. Kommt es zu einem aktiven Tuberkulose-Fall, wird schnell und flächendeckend dessen Umfeld getestet. Dabei wird aber, anders als im Falle einer aktiven Infektion, nicht auf den Erreger selbst getestet. „Die latente Infektion untersuchen wir ohne Bakteriennachweis. Diagnostiziert wird indirekt, indem wir nach einer Immunantwort auf das Mycobacterium tuberculosis suchen“, erläutert Martina Sester, Professorin für Transplantations- und Infektionsimmunologie an der Saar-Uni. Finden die Gesundheitsbehörden nun heraus, welche Personen im Umfeld des akut Erkrankten ein latent Infizierter ist, könnten diese nun vorbeugend mit Medikamenten behandelt werden, so dass die Entwicklung einer aktiven Erkrankung verhindert wird.
„Diese Medikamente sind aber keine Bonbons“, erläutert Martina Sester den Umstand, dass es sich dabei um hochdosierte Chemotherapien handelt, die mit deutlichen Nebenwirkungen einhergehen können. Und da längst nicht alle latent Infizierten dasselbe Risiko haben, eine aktive oder offene Tuberkulose zu entwickeln, ist es auch sinnvoll, die Medikamente nur bei denjenigen latent infizierten Patienten einzusetzen, deren Risiko höher ist. Dies erfordert eine genaue Interpretation des Testergebnisses vor dem Hintergrund zahlreicher Risikofaktoren. „Unter den besonders gefährdeten Gruppen sind beispielsweise Dialysepatienten, frisch transplantierte Personen und – insbesondere – HIV-positive Menschen“, erläutert Martina Sester. Personen aus diesen Risikogruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine aktive Infektion zu entwickeln als latent Infizierte mit weniger Risikofaktoren. Einen Wert für das Risiko, der die Wahrscheinlichkeit wiedergibt, an offener Tuberkulose zu erkranken, konnten Wissenschaftler und Mediziner aber bisher nicht verlässlich abgeben.
Das hat ein internationales Forscherteam, zu dem auch Martina Sester gehört, nun ändern können. Aufgrund einer umfangreichen Datenbasis – insgesamt flossen die Daten von ungefähr 20 großangelegten Studien aus Niedrigrisikoländern wie Deutschland ein – konnten die Wissenschaftler in der Studie, die federführend von Ibrahim Abubakar (University College London) geleitet wurde, eine mathematisch sehr genaue Methode entwickeln, die ärztliches Expertenwissen sehr gut abbildet. „Ein Arzt, der nun eine Orientierung erhalten möchte, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Patient eine offene Tuberkulose entwickelt, kann ganz einfach per Internet verschiedene Parameter wie vorliegende Testergebnisse, Alter, Testumstände und weitere Risikofaktoren eingeben. Das Programm errechnet dann mithilfe des neuartigen Algorithmus eine Wahrscheinlichkeit, mit der der Patient eine aktive Infektion entwickeln wird und in welchem Maße diese Wahrscheinlichkeit durch eine Chemotherapie gesenkt werden kann. „Das ist sehr hilfreich für einen Arzt, um abschätzen zu können, ob er eine latente Infektion mit Medikamenten behandeln muss oder ob er keine Medikamente verabreicht“, so Martina Sester weiter. Auf diese Weise kann eine Tuberkulose viel zielgerichteter als bisher behandelt werden, und einem latent infizierten Menschen können auf diese Weise im Zweifel unangenehme Nebenwirkungen erspart werden.
Originalpublikation: Gupta, R.K., Calderwood, C.J., Yavlinsky, A. et al. Discovery and validation of a personalized risk predictor for incident tuberculosis in low transmission settings. Nat Med (2020). www.doi.org