Soziale Themen haben bei der Bundestagswahl für viele Wähler eine wichtige Rolle gespielt. Das zeigt sich insbesondere bei den Wanderungsbewegungen hin zur Wahlgewinnerin SPD, die als „Aufholjagd“ die Endphase des Wahlkampfes 2021 geprägt und im historischen Vergleich außergewöhnlich gemacht haben.
Jünger und weiblicher, niedriges bis mittleres Einkommen und ein hohes Interesse an Themen wie Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, bezahlbarer Wohnraum, gleiche Bildungschancen oder höherer Mindestlohn: So sieht das Profil vieler erwerbstätiger oder arbeitsuchender Wähler aus, die sich kurz vor der Bundestagswahl für die Sozialdemokraten entschieden haben. Das ergibt die neue Welle der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung.
„Es ist der SPD gelungen, Menschen aus ihrer Kernklientel wieder stärker an sich zu binden. Das sind nicht nur unbedingt die klassischen Arbeiter, sondern auch Menschen, die in Branchen wie dem Gastgewerbe, im Gesundheitssektor oder in der Logistik arbeiten, teilweise in Mini- oder Teilzeitjobs“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat die Befragung zusammen mit WSI-Datenfachmann Dr. Helge Emmler ausgewertet. „Zu denen, die jetzt zur SPD gewechselt sind, zählen somit etliche Personen, die es schwer haben in der `neuen prekären Arbeitswelt´, zu der die Agenda 2010 beigetragen hat“, sagt Kohlrausch, die auch Soziologieprofessorin an der Universität Paderborn ist.
Für die Nachwahlbefragung wurden vom 30. September 2021 bis zum 11. Oktober 4523 Erwerbstätige und Arbeitsuchende online befragt, die bereits im Juni Auskunft über ihre persönliche Situation, für sie wichtige politische Fragen und Parteipräferenzen gegeben hatten. Auf dieser Basis lassen sich Personen identifizieren, die sich zwischen beiden Befragungswellen zur Wahl der SPD entschieden haben, und vergleichen mit SPD-Stammwählern sowie Wähler anderer Parteien. Die Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab. Nicht erfasst sind beispielsweise Rentner, Personen in Ausbildung oder Studium sowie Hausfrauen und -männer.
Im Vergleich zur SPD-Stammwählerschaft im Befragungssample sind die Erwerbspersonen mit relativ kurzfristiger Wahlentscheidung für die Sozialdemokraten spürbar jünger. So liegt der Anteil der Unter-30-Jährigen bei knapp 15 Prozent, während es in der Kernklientel knapp 10 Prozent sind. Zur Altersgruppe von 30 bis 45 gehören gut 27 statt rund 22 Prozent. Im Vergleich zu den Wählern der anderen Parteien sind allerdings auch diese Anteile unterdurchschnittlich. Anders ist das beim Frauenanteil: Knapp 51 Prozent der bei der Wahl neu Hinzugekommenen sind weiblich – deutlich mehr als im Durchschnitt der anderen Parteien und des SPD-Stammelektorats. Rund die Hälfte der Befragten mit relativ kurzfristiger Wahlentscheidung für die SPD verfügen über ein eher niedrigeres monatliches Nettoäquivalenzeinkommen unter 2000 Euro. Das ist ein deutlich höherer Anteil als bei Nicht-SPD-Wählern, gleichzeitig etwas niedriger als in der Stammklientel. Arbeiter sind gegenüber den übrigen Parteien etwas überrepräsentiert, die Neu-Wähler sind aber auch häufig Angestellte aus Dienstleistungsbranchen, viele in Teilzeit beschäftigt.
„Schaut man auf das soziodemografische Profil der neu Hinzugekommen, könnte man sagen, dass sich die SPD durch ihren Wahlkampf mit einem Teil der Menschen versöhnt hat, die unter ihrer früheren Politik gelitten haben“, analysiert WSI-Direktorin Kohlrausch. Gleichzeitig seien diesen relativ kurzfristig entschlossenen Wählern soziale Themen besonders wichtig. Politische Ziele wie gleiche Bildungschancen, bezahlbarer Wohnraum, ein Mindestlohn von 12 Euro oder der Abbau sozialer Ungleichheit haben für diese Befragten im Vergleich zur SPD-Stammwählerschaft eine gleich hohe oder sogar noch etwas höhere Priorität.
Auch für viele erwerbstätige oder arbeitsuchende Wähler der anderen Parteien spielten soziale Themen nach den Daten der Erwerbspersonenbefragung bei der Bundestagswahl eine erhebliche Rolle. Neben Investitionen in die Digitalisierung und der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen zählen etwa finanzielle Entlastungen für kleine und mittlere Einkommen, mehr bezahlbarer Wohnraum oder die Förderung gleicher Bildungschancen zu den Themen, denen mehr als 70 Prozent aller Befragten eine hohe Wichtigkeit attestieren (gemessen als 1-2 auf einer Skala von 1, sehr wichtig, bis 7, überhaupt nicht wichtig. Die Reduzierung sozialer Ungleichheit, die Anhebung des Mindestlohns und eine Stärkung der Mitbestimmung von Arbeitnehmern stufen jeweils mehr als 60 Prozent als sehr wichtig ein.
Neben Wählern der SPD räumen vor allem Personen, die Linke oder Grüne gewählt haben, sozialen Verbesserungen eine hohe Priorität ein. Doch auf einer Skala zwischen 1 und 7 tendieren auch die befragten Erwerbspersonen, die AFD, die Unionsparteien oder die FDP gewählt haben, meist zu Werten zwischen 2 und 3.