Symbolbild

Beim Menschen verhält es sich ein wenig wie beim Auto, wenn die Reifen nicht genau ausgerichtet sind: „Wenn beim Auto die Spur falsch eingestellt ist und die Reifen einseitig abgefahren sind, nutzt es auch nichts, neue Reifen aufzuziehen. Solange die Spur nicht richtig eingestellt ist, wird sich auch der neue Satz Reifen schnell abfahren“, sagt Henning Madry, Professor für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung an der Universität des Saarlandes. Sein Team, insbesondere die beiden Erstautoren Sophie Haberkamp und Tamás Oláh, und er haben nun in einer Studie nachgewiesen, dass sich eine Achsabweichung der Beine, zum Beispiel sogenannte O-Beine, massiv auf die Entstehung einer Arthrose in bestimmten Bereichen des Kniegelenks auswirkt.

Henning Madry, Professor für Experimentelle Orthopädie und Arthroseforschung an der Universität des Saarlandes
Foto: Rüdiger Koop

Fünf Jahre lang haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler extrem detailreiche räumliche Aufnahmen der Kniegelenke von Arthrosepatienten mit O-Bein-Achsabweichung untersucht. „Das ist vergleichbar mit der sehr scharfen und hochaufgelösten topographischen Kartierung eines sehr weit entfernten Planeten“, vergleicht Henning Madry den Schwierigkeitsgrad. Die Forscher haben zudem rund 100 Gewebeproben von explantierten Kniegelenken analysiert, die bei Patienten entnommen wurden, denen eine Prothese eingesetzt wurde. Dabei hat sich eine der zentralen Hypothesen des Teams überraschenderweise nicht bestätigen können: „Wir sind davon ausgegangen, dass die Gradzahl der Abweichung“ – also der Winkel zwischen dem Ober- und Unterschenkel – „mit der Stärke der Arthrose auf der überlasteten Innenseite des Kniegelenks zusammenhängt, also dort, wo bedingt durch den Grad der Fehlstellung der meiste Druck lastet“, sagt Henning Madry. Das ist aber gar nicht so.

Obwohl sich der größte Schaden auf der Innenseite fand und der Knorpel dort bei den untersuchten Patienten so gut wie weg war, lag dort kein Zusammenhang mehr zwischen Achsabweichung und Knorpelzerstörung vor; ein Befund, den die Forscher mit einer fehlenden Adaptationsmöglichkeit dieses massiv überlasteten Gelenkanteils erklären. Diese Erkenntnis hat gravierende Konsequenzen, denn mögliche knorpelregenerative Therapien sind, so Henning Madry, damit an dieser exponierten Stelle so gut wie wirkungslos. „Unsere Erkenntnisse sind auch sehr wichtig für künftige klinische Studien. Diese sollten sich nämlich in fortgeschrittenen Fällen gar nicht auf die sehr geschädigte Seite konzentrieren, da sich dort ja sowieso nichts mehr regenerieren kann, wie wir nun wissen.“ Womit wir wieder beim Autoreifen und der falsch eingestellten Spur sind: „Denn eine Therapie hilft auch nichts, wenn die Ursache, nämlich die Achsabweichung, nicht korrigiert ist“, schlussfolgert Henning Madry. Daher lautet eine zentrale Schlussfolgerung, dass man in Frühstadien der Arthrose bei einer gleichzeitigen Achsabweichung immer auch parallel letztere behandeln sollte, während man die Arthrose therapiert. Also: Zuerst die Spur korrigieren, und dann kommen die neuen Reifen drauf, nicht umgekehrt.

Ein weiterer Aspekt, der sich in den Ergebnissen der Studie ebenfalls gezeigt hat, ist Madry besonders wichtig: „Bei Übergewicht verstärkt sich die Arthrose noch. Das kann man gar nicht genug betonen.“ Je mehr Gewicht auf ein nicht richtig stehendes Gelenk drückt, desto größer der Schaden. Ärzte raten übergewichtigen Patienten zwar schon längere Zeit, möglichst Gewicht zu verlieren, um den Druck auf die Gelenke zu verringern. „Nun haben wir aber mit unseren Daten auch eine wissenschaftliche Untermauerung für dieses medizinische Wissen, dass Übergewicht ein Treiber für das Fortschreiten der Arthrose ist“, unterstreicht Henning Madry, der auch als klinischer Orthopäde am Universitätsklinikum des Saarlandes tätig ist.

Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, war jahrelange Fleißarbeit nötig, die insbesondere Sophie Haberkamp als Doktorandin an seinem Lehrstuhl geleistet habe, betont Madry. So wurden zum Beispiel aus neun Knieexplantaten jeweils zehn Würfelchen mit einer Kantenlänge von zehn Millimetern herausgeschnitten. Von jedem dieser Zehn-mal-zehn-Millimeter-Würfelchen wurden dann cirka 1000 bis 2000 Schichtbilder im Mikro-Computertomographen aufgenommen, um den Knochen unter dem Knorpel zu beurteilen. Das dauert zwischen mehreren Stunden und einer Nacht pro Würfel. Die Bilder müssen dann rekonstruiert und ausgemessen werden, die Gewebeprobe muss histologisch mit verschiedenen Spezialfärbungen und auch biochemisch weiter untersucht werden. Schließlich müssen die Schichtaufnahmen ausgewertet und zusammen mit den anderen Ergebnissen, darunter auch klinische Daten von den Patienten, interpretiert werden. „Und ich rede nun von einem einzigen Würfelchen“, unterstreicht Professor Madry. „Und wenn dann irgendwann alle Daten von allen Würfelchen aller Patienten vorliegen, braucht man eine Weile, bis man sie auch versteht.“ Oft hat das Autorenteam alle wichtigen Daten und Bilder stapelweise ausgedruckt und an die große Schrankwand in Henning Madrys Büro gepinnt, um stundenlang gemeinsam darüber nachzudenken, was diese Daten aussagen.

Die Fleißarbeit hat sich gelohnt. „Science Translational Medicine“ ist in der Riege der wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich mit Medizin befassen, eines der international angesehensten Journale. Dass die Studie dort zur Publikation angenommen wurde, ist schon eine große Würdigung der Arbeit der Homburger Forscher. Überdies sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Henning Madry auch noch auf dem Titelblatt als Cover-Geschichte gelandet. Und das, findet Henning Madry, ist wirklich eine „Super-Auszeichnung“.

Originalpublikation: S. Haberkamp, T. Oláh, P. Orth, M. Cucchiarini, H. Madry, Analysis of spatialosteochondral heterogeneity in advanced knee osteoarthritis exposes influence of joint alignment. Sci. Transl. Med.12, eaba9481 (2020).
DOI: 10.1126/scitranslmed.aba9481 Weitere Informationen: stm.sciencemag.org

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