Zweieinhalb Jahre nach ihrer Auftaktveranstaltung in Homburg hat die Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) am Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS) jetzt ihren Abschlussbericht vorgelegt.

Der Aufsichtsrat des UKS hatte die Kommission beauftragt, schwere Vorwürfe gegen das Klinikum zu untersuchen, die im Jahr 2019 öffentlich geworden sind. Konkret ging es um mutmaßliche Missbrauchshandlungen an Kindern in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 2010 bis 2014 sowie um zwei ungeklärte Körperverletzungen zum Nachteil von Kindern im Operationssaal der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in den Jahren 2012 und 2014.

Der Bericht der Unabhängigen Kommission kann ab sofort im Internet unter www.unabhaengige-aufarbeitungskommission-uks.de heruntergeladen werden.

Gemäß dem Auftrag des Aufsichtsrats rückte die Kommission diejenigen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, die sich bei den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sowie im politischen Prozess der parlamentarischen Untersuchungen an den Rand gestellt sahen: Es ging um die betroffenen Kinder, insbesondere um die ehemaligen Patienten des UKS, um ihre Angehörigen, um ihr Leid und um ihre Enttäuschungen über den Umgang mit ihnen. Gleichzeitig sollten auch die Beschäftigten des UKS aufklärende Informationen über das Geschehene erhalten. Gleichzeitig sollten die Prozesse und Strukturen in der UKS untersucht werden, um erkennen und bewerten zu können, wie es zu den Vorfällen kommen konnte.

Das Vertrauen der betroffenen Menschen im Saarland in das Universitätsklinikum hat durch die Ereignisse schweren Schaden genommen. Wesentliche Ursache für diesen Vertrauensverlust ist insbesondere die ausgebliebene Information der Angehörigen nach der internen Aufdeckung der Verdachtsumstände im UKS. Der vielfache Missbrauchsverdacht und der Umgang mit den Geschehnissen seit dem Jahr 2010 wurden den Angehörigen und der Öffentlichkeit erst im Jahr 2019 bekannt.

Eine Unabhängige Kommission mit einem Beirat sollte durch die Aufarbeitung der Vorgänge dazu beitragen, das Vertrauen der Menschen in den Schutzraum Krankenhaus UKS zurückzugewinnen.

Die Kommission fasst zentrale Ergebnisse der Aufarbeitung wie folgt zusammen:

  1. 808 Anschreiben an mögliche Betroffene – 52 Rückmeldungen

Die Expertinnen und Experten der UAK und des Beirates der UAK haben ihre Aufgabe, Vertrauen zu gewinnen, von Anfang an als sehr schwierig eingeschätzt. Die Kommission hat insgesamt 808 möglicherweise betroffene Familien angeschrieben, davon 202 Familien zweimal. 52 Familien haben schriftlich Kontakt mit der UAK aufgenommen. 14 von ihnen waren bereit, mit den ärztlichen Mitgliedern der UAK zu sprechen. Acht dieser Familien konnten für die Mitwirkung in Workshops gewonnen werden. Rund 120 Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen, aktiven und ehemaligen Beschäftigten des UKS sowie Expertinnen und Experten hat die UAK geführt. Mehr als 80 Missbrauchsverdachtsfälle hat die Kommission registriert. 30 der davon mutmaßlich betroffenen Familien haben sich bisher nicht bei der UAK gemeldet.

Nach der Auswertung von 52 Patientenakten hat die Kommission die Fälle wie folgt eingestuft:

–          7 Fälle mit besonders hoher Belastung,

–       31 Fälle mit Belastung,

–       14 Fälle, in denen keine Feststellung einer Belastung getroffen werden konnte.

Die Kommission hat in ihrem Abschlussbericht Vorschläge zu einer finanziellen Entschädigung der Betroffenen gemacht.

Die Entscheidungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen, an der Aufarbeitung mitzuwirken oder auch nicht, müssen respektiert werden. Oftmals braucht es eine Zeit von vielen Jahren, bevor Missbrauchsopfer innerlich in der Lage sind, sich über das Geschehene offenbaren zu können.

  1. Institutioneller Umgang mit den Geschehnissen

Nach den Jahren des fruchtlosen öffentlichen Streits über Verantwortung und Konsequenzen sind viele Menschen enttäuscht und müde geworden. Erwartete personelle Veränderungen als Konsequenz aus dem Geschehen blieben aus. Die Betroffenen und ihre Angehörigen scheinen weitgehend den Glauben an den Willen der Institutionen verloren zu haben, für eine unabhängige und aufrichtige Aufarbeitung zu sorgen.

Ein Höhepunkt der fast zweieinhalbjährigen Aufarbeitung am UKS war die öffentliche Entschuldigung der Ärztlichen Direktorin bei den Betroffenen und Angehörigen für erlittenes Leid und die Übernahme der institutionellen Verantwortung für sexuellen Missbrauch und für die Verletzungen von Kindern im OP der HNO. Diese Entschuldigung und Verantwortungsübernahme erfolgte auf einer Pressekonferenz im Oktober 2022.

Als die Öffentlichkeit im Jahr 2019 von dem Missbrauchsskandal erfuhr, erlebten die Beschäftigten des UKS einen wahren Sturm der Empörung in der Öffentlichkeit wegen der bewussten Unterlassung der Information von Angehörigen der missbrauchten Kinder. Ein weiterer Grund war der als unprofessionell empfundene Umgang mit den Geschehnissen durch die damalige Leitung. Die öffentliche Diskussion darüber zog auch bei den Beschäftigten des UKS Folgen nach sich, die sich bis in den privaten Bereich erstreckten. Auch für diese Folgen des Skandals entschuldigte sich die amtierende Ärztliche Direktorin öffentlich.

Der von 2020 bis Anfang 2022 arbeitende parlamentarische Untersuchungsausschuss konnte Verantwortlichkeiten nicht einvernehmlich klären. Das Vertrauen der Betroffenen und ihrer Angehörigen konnte er jedenfalls nicht zurückgewinnen. Deren Interessen, so der Eindruck von Betroffenen, wurden nicht genügend berücksichtigt. Personelle Konsequenzen gab es keine. Ein Disziplinarverfahren gegen den Leiter der Klinik, in dem der mutmaßlich pädosexuelle Arzt beschäftigt war, wurde eingestellt. Der Klinikdirektor verließ freiwillig das UKS. Obwohl er eine besondere Verantwortung für den Umgang mit dem Missbrauchsverdacht trägt, folgte er weder der Vorladung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses noch einer Einladung der UAK zu einem Gespräch. Nach den Erkenntnissen hätte es das UKS mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Hand gehabt, den gesamten weiteren Prozess bereits im Jahr 2010 durch professionelles Handeln zu verhindern.

In diesem Zusammenhang ist auf Folgendes hinzuweisen: Der Auftrag des Aufsichtsrates an die UAK war nicht, dem Aufsichtsrat personelle Maßnahmen als eventuelle Konsequenz für das Fehlverhalten von Beschäftigten vorzuschlagen. Dies hätte einer juristischen Aufarbeitung bedurft. Derartige Schlussfolgerungen zu ziehen, ist nach Prüfung des Abschlussberichts der UAK allein Sache des Aufsichtsrats respektive des Vorstands des UKS.

Die Versäumnisse des UKS im Umgang mit den Geschehnissen und mit den Angehörigen der Betroffenen waren auch Ausdruck struktureller Mängel am Klinikum. Für Ärzte als mutmaßliche Täter, die Patienten missbrauchen, fehlte jegliche Vorstellungskraft und damit auch jegliche Prävention. Negativ verstärkend wirkte für die Betroffenen und Angehörigen die Führungshierarchie des UKS, die „keine Fehler gemacht hatte“ und keine Kratzer am eigenen Image zuließ. Für Information und Transparenz gegenüber den Beschäftigten gab es keine verbindlichen Regeln. Eine gelebte Fehlerkultur, die Kritik belohnt und nicht bestraft, war nicht erkennbar.

  1. Strukturelle Mängel: Kreislauf der Nichtverantwortlichkeit und Unzuständigkeit

Aber auch außerhalb des Krankenhauses war der Schutz der Kinder nicht hinreichend gewährleistet. Die Argumentation der mit dem Fall befassten Institutionen verkannte das übergeordnete Prinzip des Kindeswohls. Der Kreislauf der Nichtverantwortlichkeit und Unzuständigkeit von Staatsanwaltschaft, Polizei, Jugendamt, Judoverein, Judoverband und Ärztekammern hat aus der Sicht der UAK in unterschiedlicher Ausprägung grundlegende Auffassungsunterschiede im Verständnis einer verantwortungsbewussten Gefahrenabwehr und eines damit im Zusammenhang stehenden Kinderschutzes offenbart. In dubio pro infante, im Zweifel für das Kind – dieser Grundsatz entspringt einer verfassungsrechtlichen Interpretation und ist zugleich eine Aufforderung an alle Institutionen zu einem wirksameren Schutz des Kindeswohls.

Die UAK empfiehlt daher auf Grundlage eines von ihr in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens, dass der saarländische Gesetzgeber sich auf bundesgesetzlicher Ebene dafür einsetzen sollte, dass die Jugendämter als Zentralstellen für die Aufgabenwahrnehmung bei Kindeswohlgefährdungen fungieren. Bei ihnen sollten alle Informationen öffentlicher oder privater Dritter über tatsächliche Anhaltspunkte für konkrete Kindeswohlgefährdungen zusammengeführt werden müssen. Gesetzlich klargestellt werden sollte, dass die Jugendämter Dritte einschalten können, soweit deren Tätigwerden zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung konkret gefährdeter Kinder oder weiterer noch unbekannter Kinder, die ebenfalls gefährdet sein könnten, erforderlich ist. Die Weitergabe von Sozialdaten durch die Jugendhilfe insbesondere an die Familiengerichte sollte umfangreicher ermöglicht werden.

  1. Erleichterter Zugang von Betroffenen zu Entschädigungen

Mit der Vorlage des Abschlussberichts kommt es aus der Sicht der Unabhängigen Kommission und des Beirates jetzt entscheidend darauf an, wie und mit welcher zeitlichen Priorität der Aufsichtsrat des UKS mit den Empfehlungen der UAK umgeht.

Die UAK hat mit ihrem Abschlussbericht konkrete Empfehlungen zum erleichterten Zugang zu Entschädigung, Schmerzensgeld, Wiedergutmachung und für therapeutische Hilfen für Betroffene und Angehörige vorgelegt.

Die UAK empfiehlt, dass die Betroffenen und Angehörigen über das Ergebnis der Bewertung der Analyse ihrer Patientenakten und Anhörungen durch eine Clearingstelle proaktiv im Auftrage des Aufsichtsrates informiert werden. Eine UKS-externe unabhängige Clearingstelle sollte daher umgehend die Arbeit zur Umsetzung dieser Empfehlungen der UAK aufnehmen.

Aus der Sicht der Betroffenen und Angehörigen gibt es leidvolle Erfahrungen und unerträgliche Belastungen im Zusammenhang mit den Bewertungen des Inhalts ihrer Patientenakten. Die Betroffenen haben die bittere Erfahrung machen müssen, dass bislang ihre Geschichte reduziert wurde auf die lückenhafte, teilweise falsche und auch fehlerhafte Dokumentation durch den ehemaligen Assistenzarzt. Indem das tatsächlich Geschehene auf Bestandteile der Patientenakte reduziert wird, wird weder der tatsächliche Missbrauch – geschehen auch im UKS – bewertet und anerkannt, noch werden es die Tatfolgen und der Schädigungsumfang.

Das UKS sollte daher Betroffenen dauerhaft psychosoziale und therapeutische Beratungsmöglichkeiten in Einrichtungen des UKS zusagen beziehungsweise den Zugang zu einem solchen Beratungsangebot im Rahmen einer Vereinbarung mit einer externen Fachberatungsstelle ermöglichen.

Das Leitbild 2022 des UKS lautet: „Wir handeln so, wie wir selbst behandelt werden wollen!“ Dass die Perspektive der Betroffenen und Angehörigen in der Zeit von 2010 bis 2014 ein blinder Fleck des UKS war, muss nun endgültig der Vergangenheit angehören.

Die Unabhängige Kommission hat durch die Vorbereitungen für den Verständigungsprozess zwischen Betroffenen und Angehörigen mit dem UKS, durch weitere Empfehlungen zur Verbesserung des Kinderschutzes, zur Erinnerungskultur, zu Entschädigung, Schmerzensgeld und Wiedergutmachung, zur Aufarbeitung der strukturellen Versäumnisse sowie durch rechts-, organisations- und sozialwissenschaftliche Analysen einen umfangreichen Empfehlungskatalog für die Zukunft des UKS geschaffen.

Der Aufsichtsrat sollte der von der UAK empfohlenen Kategorisierung und Höhe der Entschädigung für erlittenes Unrecht in den untersuchten Fällen sowie den anzuwendenden Grundsätzen der Glaubhaftmachung solchen Unrechts zustimmen. Betroffene sollten sich mit ihren Ansprüchen an die bereits erwähnte unabhängige Clearingstelle wenden können, die nach Prüfung über die Ansprüche entscheidet. Die Clearingstelle sollte daher proaktiv Kontakt zu den bisher identifizierten Anspruchsberechtigten aufnehmen.

  1. Grundsätzliche Reform der Organisation

Dazu gehört auch eine grundsätzliche Reform der Organisation, der Unternehmenskultur, des Binnenklimas und der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Ebenen. Ziel muss eine wertschätzende Fehlerkultur im UKS sein.

Die Kommission würdigt ausdrücklich die Anstrengungen des UKS und ihrer Beschäftigten angemessene Konsequenzen aus den Vorfällen zu ziehen, so etwa die Fortentwicklung des Schutzkonzepts für Kinder.

Die UAK ermutigt das UKS in diesen Anstrengungen nicht nachzulassen, diese aber in eine grundlegende und längerfristige Perspektive einzuordnen. Sie empfiehlt dem UKS im Rahmen eines extern begleiteten Organisationsentwicklungsprozesses das Qualitäts- und Risikomanagement zu einem umfassenden Qualitätsmanagementsystem zu entwickeln, welches sich am Modell einer lernenden Organisation orientiert. Dazu gehört auch, zur Gewaltprävention und zum Kinderschutz Risikoanalysen durchzuführen und Qualitätssicherung zu betreiben. Dies ist als Grundlage für ein funktionierendes Frühwarnsystem und eine damit verbundene proaktive Krisenbewältigung zu verstehen. Außerdem sind Regeln für den Umgang mit Kommunikationskrisen zu schaffen.

Dem Abschlussbericht der Unabhängigen Kommission können neben den 39 wesentlichen Empfehlungen weitere wichtige Hinweise aus den einzelnen Kapiteln des Berichts entnommen werden.

Quelle: UAK

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