Wenn neu gebildete rote Blutzellen aktiv im Körper zerstört werden, sprechen Fachleute von Neozytolyse. Sie tritt, so die Theorie, immer dann auf, wenn sich zu viele rote Blutzellen im Körper befinden. Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass Neozytolyse auch abläuft, wenn Menschen nach längerem Aufenthalt in großen Höhen, etwa in den Bergen, wieder hinabsteigen, um so die in großer Höhe gebildeten Erythrozyten wieder zu vernichten. Dies ist jedoch falsch, wie Wissenschaftler der Saar-Uni und der Uni Heidelberg in Kooperation mit internationalen Partnern nun herausgefunden haben. Ihre Erkenntnisse haben sie im Fachmagazin Acta Physiologica veröffentlicht.
Wenn man sich eines gewiss sein kann, dann ist es der Ungewissheit: Da dieser Sinnspruch laut Google noch nicht vergeben ist, können ihn nun womöglich Professor Lars Kaestner von der Universität des Saarlandes und seine Kollegen Heimo Mairbäurl vom Heidelberger Universitätsklinikum und Professor Anna Bogdanova von der Universität Zürich für sich beanspruchen. Denn sie haben in einem Forschungsprojekt, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Schweizerische Nationalfonds gemeinschaftlich gefördert haben, eine wissenschaftliche These widerlegt, die große Teile der Wissenschaftswelt für zumindest glaubhaft hielt: die Neozytolyse nach Aufenthalten in großen Höhen.
Dahinter verbirgt sich die Zerstörung neu gebildeter roter Blutzellen nach der Rückkehr aus der „dünnen Luft“ der Berge in tiefere Lagen, in denen dem Körper wieder mehr Sauerstoff zur Verfügung steht. Tatsächlich reagiert der menschliche Organismus ganz anders. „Wir sind in bei der Projektplanung davon ausgegangen, dass wir die Neozytolyse nach der Rückkehr aus großer Höhe nachweisen, da wir alle davon ausgingen, dass sie tatsächlich vorkommt“, erläutert Lars Kaestner. „Es gibt bisher zwar gute Hinweise auf Neozytolyse bei Mäusen, aber die gezielte Zerstörung neu gebildeter Erythrozyten beim Menschen ist bisher noch nicht nachgewiesen worden“, so der Biophysiker.
Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom Universitätsklinikum Heidelberg ist Lars Kaestner mit zwölf Probanden im Frühjahr 2019 auf das Schweizer Jungfraujoch auf rund 3500 Metern Höhe gereist. Dort haben sie drei Wochen lang abgewartet, bis der Körper sich akklimatisiert hat und begonnen hat, aufgrund der Höhenlage und dem damit verbundenem geringen Sauerstoffgehalt, der „dünnen Luft“, verstärkt rote Blutzellen zu bilden. Nach dem Abstieg haben die Forscher dann untersucht, wie viele dieser neu gebildeten Erythrozyten wieder aus dem Blut verschwunden sind, sprich: Wie viele der Körper wieder zerstört hat.
Dazu haben sie ein Kohlenstoff- und ein Stickstoff-Isotop ins Blut geschmuggelt, die ins Hämoglobin, dem „Farbstoff“ der Erythrozyten, eingebaut werden. Sie unterscheiden sich geringfügig von den natürlichen Kohlenstoff- und Stickstoff-Isotopen, die Bestandteil des Hämoglobins sind. Auf diese Weise konnten die Forscher nachvollziehen, wie viele der in der Höhenlage neu gebildeten Blutzellen nach der Rückkehr ins Tal zerstört worden sind. Das zusätzliche Stickstoff-Isotop wurde den Probanden nach den ersten 10 Tagen auf dem Jungfraujoch verabreicht, so dass sich bis zur Rückkehr ausreichend viele neue Erythrozyten bilden konnten, die es aufnehmen. Nach der Rückkehr ins Tal haben die Wissenschaftler dann in engen Abständen untersucht, wie lange das Isotop noch nachweisbar ist, um nachvollziehen zu können, wie viele der neuen Blutzellen tatsächlich wieder verschwinden – also der Neozytolyse unterliegen. Als Kontrollmaß diente die Untersuchung des mit Kohlenstoff-Isotopen versetzen Hämoglobins, das einige Zeit vor dem Experiment in großer Höhe durchgeführt wurde und mit dem das natürliche Ausmaß des Erythrozyten-Verlustes bestimmt wurde.
„Die Kurve, die den Verlust der neu gebildeten Erythrozyten nach dem Abstieg vom Jungfraujoch darstellt, ist deckungsgleich mit der Kurve unter Kontrollbedingungen“, erläutert Lars Kaestner. Anders formuliert: „Die roten Blutkörperchen unterliegen nicht der Neozytolyse, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Es gibt einfach nur einen ‚Produktionsstop‘ in der körpereigenen Herstellung der roten Blutzellen, der so genannten Erythropoese, aber keine spezielle Vernichtung der neu gebildeten Blutzellen“, lautet das Fazit von Lars Kaestner. Damit haben die Wissenschaftler die jahrzehntealte Annahme widerlegt, dass neu gebildete rote Blutkörperchen zerstört werden, wenn ein Mensch von der Höhe wieder zurück ins Tal kehrt. Ob Neozytolyse unter anderen medizinisch relevanten Bedingungen, wie bei Bluttransfusionen oder in der Raumfahrt, eine Rolle spielt, ist weiterhin ungeklärt.
Originalpublikation: Klein M, Kaestner L, Bogdanova AY, et al. Absence of neocytolysis in humans returning from a 3- week high- altitude sojourn. Acta Physiol. 2021;00:e13647. https://doi.org/10.1111/apha.13647