Die Umsätze für Arzneimittel haben im Jahr 2020 mit 49,2 Milliarden Euro einen neuen Höchststand erreicht. Der ungebrochene Trend zur Hochpreisigkeit – vor allem bei neu eingeführten Wirkstoffen – wirkt sich immer stärker auf die Arzneimittelumsätze aus. Das zeigt die erste Ausgabe des heute erschienenen Arzneimittel-Kompass 2021, der Herausforderungen und Perspektiven im Umgang mit hochpreisigen Arzneimitteln in den Mittelpunkt stellt. Problematisch ist demnach die oft mangelnde Balance zwischen dem Nutzen eines Arzneimittels und den hohen Preisen sowie den sich daraus ergebenden Einnahmen und Gewinnen der pharmazeutischen Industrie.
Weltweit und somit auch in Deutschland zeigt sich der Trend zu hohen Preisen bei neuen Arzneimitteln: So kostete in 2011 eine Arzneimittelpackung im Durchschnitt (ungewichtetes Mittel) 180 Euro, im August 2021 lagen die Packungspreise bei durchschnittlich 1.225 Euro. Neue Arzneimittel, die in den letzten 36 Monaten auf den deutschen Markt gekommen sind, kosten aktuell sogar im Durchschnitt 51.189 Euro pro Packung (2011: 902 Euro). Der aktuelle Spitzenplatz wird von Libmeldy® mit einem Listenpreis von knapp 2,9 Millionen Euro belegt, einem Medikament, das zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit bei Kindern eingesetzt wird.
Kurzfristige Weiterentwicklung des AMNOG notwendig
Um gegenzusteuern und diese Entwicklung einzudämmen, zeigen über 40 Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen im Arzneimittel-Kompass 2021 verschiedene Lösungswege auf. Dazu gehört die Weiterentwicklung der frühen Nutzenbewertung und der daran anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen. Ein Interimspreis in Verbindung mit einer Rückwirkung des Erstattungsbetrags könnte die Preissetzungsmacht des Herstellers innerhalb des ersten Jahres stoppen. Aber auch alternative Erstattungsmechanismen wie Preis-Mengen-Vereinbarungen oder eine erfolgsabhängige Erstattung könnten in den Verhandlungen eine stärkere Berücksichtigung finden.
Doch diese Maßnahmen werden langfristig nicht ausreichen. Die heute von der pharmazeutischen Industrie aufgerufenen hohen Preise werden über den „Wert“ des Arzneimittels für die Gesellschaft oder für das Individuum begründet: Die Lebenserwartung steigt, und die Lebensqualität verbessert sich. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Paradigma allein trägt, stehen doch auch Fragen der gesellschaftlichen Finanzierbarkeit und damit der Verteilungsgerechtigkeit im Raum.
Um dem weltweit erkennbaren Trend zur Hochpreisigkeit von Arzneimitteln langfristig zu begegnen, wird in der Wissenschaft aktuell ein anderer Lösungsansatz diskutiert. Die Preissetzung von patentierten Arzneimitteln solle grundsätzlich verändert werden, um eine bessere Allokation der Ressourcen zu ermöglichen. Ein einfacher, effektiver und transparenter Algorithmus, der basierend auf einem Vorschlag der Erasmus Universität in Rotterdam vom Internationalen Verband der Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit (AIM) entwickelt wurde, ermöglicht dagegen die Ermittlung eines Preises für jedes neue Arzneimittel, der als „fair“ betrachtet wird.
Dabei berücksichtigt das Modell, das bereits im Europäischen Parlament vorgestellt wurde, Kosten für Forschung und Entwicklung eines neuen Arzneimittels, die Produktions- und Gemeinkosten wie auch die Kosten für den Vertrieb und die fachliche Information. Auf all diese Investitionen und Kosten des pharmazeutischen Unternehmens wird ein Grundgewinn gewährt wie auch zusätzliche Aufschläge für Therapie-Innovationen auf die gesamten Kosten werden honoriert.
Originalpublikation: H. Schröder/P. Thürmann /C. Telschow/M. Schröder/R. Busse (Hrsg.) Arzneimittel-Kompass 2021. Hochpreisige Arzneimittel – Herausforderung und Perspektiven. Springer, Berlin. 307 Seiten; kart.; 42,79 €. ISBN 978-3-662-63928-3