Im Frühjahr 2012 signalisierten Vertreter der Ukraine und der EU ihre Zustimmung zu einem sogenannten Assoziierungsabkommen. Es enthielt weitgehende Regeln für eine Zusammenarbeit in Sicherheitspolitik, Korruptionsbekämpfung und Handel. Zudem fixierte es Ziele zur Demokratisierung und zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung des osteuropäischen Landes. In einem Ende 2020 abgeschlossenen Projekt haben Forscher der Universität Augsburg und der Universität Kiew-Mohyla die Konsequenzen des Abkommens untersucht. Durch den Angriff Russlands erhält die Studie nun eine traurige Aktualität.
Obwohl die Pläne schon 2012 unterschriftsreif waren, sollte das Abkommen erst zwei Jahre später in Kraft treten. Die Regierung unter dem damaligen ukrainischen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowytsch lehnte es ab, das Vertragswerk zu unterzeichnen – unter anderem auf Druck Russlands, das seine eurasische Zollunion gefährdet sah. Die Entscheidung führte zu landesweiten Protesten, vor allem auf dem zentralen Platz der Hauptstadt Kiew, dem Majdan. Nach einer blutigen Eskalation wurde Janukowytsch abgesetzt. Kurz darauf marschierte Russland in die Krim ein. Die neue ukrainische Regierung unterzeichnete das Assoziierungsabkommen schließlich und führte in den Folgejahren ihr Land immer stärker an die EU heran.
„Das Abkommen ist ein zentrales Element in dem Krieg, der sich momentan vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt“, erklärt Dr. Stefan Lorenzmeier von der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg. Der Rechtswissenschaftler hat zusammen mit Kollegen von der Nationalen Universität Kiew-Mohyla zwischen 2016 und 2020 die Konsequenzen des 1.200 Seiten starken Vertrags untersucht. „Es handelte sich dabei um einen neuen Typus von Abkommen, in dem es nicht ausschließlich um eine Erleichterung des Handels ging“, erklärt er. „Stattdessen schreibt es vor, dass sich die Ukraine auch rechtlich der Union angleicht. Dabei ging es der EU sicher auch um den Export europäischer Werte.“
Lorenzmeier glaubt, dass das auch einer der Gründe war, warum Russland so empfindlich auf diese Form der Anbindung reagierte. „Die ideelle Annäherung war für Moskau sicher noch bedrohlicher als der mögliche Schaden, den das Abkommen für die eigene Freihandelszone bedeutete“, sagt der Jurist, der für das von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderte Projekt längere Zeit in Kiew gelebt hat. Zumal ein Beitritt der Ukraine zur EU zwar nicht Thema des Vertrags gewesen sei, aber möglicherweise die langfristige Konsequenz. Seiner Erfahrung nach spiegelt das Abkommen aber auch eine tief empfundene Grundstimmung wider, die gerade junge Frauen und Männer in der Ukraine teilen: „Viele von ihnen sind sehr stark westlich orientiert, soweit ich das aus meiner akademischen Blase heraus beurteilen kann.“
In den letzten Jahren habe die Ukraine immense Anstrengungen unternommen, die Kriterien des Assoziierungsabkommens zu erfüllen. Dabei seien die Herausforderungen sehr groß gewesen: „Das Land musste nicht nur Teile seiner Verfassung ändern, sondern hat auch die Rechtsordnung des europäischen Gerichtshofs übernommen“, betont Lorenzmeier. Das habe positive Folgen für die gesellschaftliche Modernisierung, die Weiterentwicklung der demokratischen Organe und nicht zuletzt die Wirtschaft gehabt. „Das alles steht nun nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte natürlich auf dem Spiel.“
Er verfolgt mit Entsetzen, wie die Lage in Kiew, Charkiw und anderen Städten der Ukraine Tag für Tag bedrohlicher wird. Die Konsequenzen werden auch in seinem persönlichen Netzwerk sichtbar: „Unser ukrainischer Projektpartner musste Abschied von seinen Kindern und seiner Frau nehmen, die inzwischen das Land verlassen haben“, sagt der Augsburger. Weitere ukrainische Freunde haben ihn zudem gebeten, Unterkünfte für geflohene Familien zu finden, was aufgrund der großen internationalen Solidarität bislang auch gut möglich war.
Originalpublikation: Die rechtlichen Leitfragen des Abkommens wurden 2021 im Sammelband „EU External Relations – Shared Competences and Shared Values in Agreements between the EU and its Eastern Neighbourhood“ (https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-030-62859-8) erörtert. Darin werden auch die Vertragsbeziehungen der Union mit Georgien, Russland und Belarus analysiert. Das Werk wird in diesem Jahr auch auf Deutsch erscheinen.