Auf lange Sicht könnte es sinnvoller sein, zuerst Menschen unter 60 gegen Covid-19 zu impfen – etwa in Ländern, die gerade mit den Impfungen begonnen haben, oder bei künftigen Impfkampagnen dort, wo inzwischen bereits große Teile der Bevölkerung gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 immunisiert sind. Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg und der Technischen Universität Ilmenau berechnet haben, können Kontaktbeschränkungen, die eine Überlastung der Intensivstationen vermeiden, bei einem Betrachtungszeitraum von mehr als acht Wochen eher aufgehoben werden, wenn zuerst jüngere Menschen geimpft werden.
In vielen Ländern vor allem des globalen Südens sind bislang nur wenige Menschen gegen Covid-19 immunisiert. Und in Israel werden Menschen bereits zum dritten Mal geimpft, während die Regierung dort gleichzeitig wieder Kontaktbeschränkungen erlässt. Ein ähnliches Zusammenspiel von Impfungen und Einschnitten ins soziale und wirtschaftliche Leben, könnte vielerorts notwendig werden, wenn sich Virusvarianten entwickeln, die den Schutz der bisherigen Impfungen unterlaufen können. Um die Intensivstationen vor Überlastung zu schützen und Kontaktbeschränkungen trotzdem möglichst schnell wieder aufheben zu können, ist möglicherweise jedoch eine andere Impfstrategie sinnvoller, als sie derzeit in den meisten Ländern verfolgt wird.
„Unsere Rechnungen zeigen, dass man eine Impfstrategie nicht an kurzfristigen Zielen ausrichten sollte“, sagt Sara Grundel, Leiterin einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik technischer Systeme in Magdeburg. Wie sie gemeinsam mit einem Team, an dem auch Forschende der Technischen Universität Ilmenau beteiligt waren, in Simulationen nachwies, nimmt der Bedarf an Intensivbetten zwar schnell ab, wenn zunächst Menschen über 60 geimpft werden. Doch schon bei einem Betrachtungszeit-raum von mehr als acht Wochen, erweist es sich in den Rechnungen als sinnvoller, erst Menschen unter 60 zu immunisieren. Da diese mehr soziale Kontakte haben, lässt sich so eine Überlastung der Intensiv-stationen verhindern. Wenn die sozialen Kontakte um 30 Prozent reduziert, sterben bei diesem Vorgehen auch am wenigsten Menschen an Covid-19. Gleichzeitig könnten Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben ein halbes Jahr früher aufgehoben werden als bei einer Impfpriorisierung von Menschen über 60. „Da die Einschnitte im sozialen Leben, in den Schulen und in der Wirtschaft, viele negative Folgen haben, sollten sie möglichst begrenzt werden“, sagt Sara Grundel. „Deshalb ist es wichtig langfristig zu betrachten, wie sich Impfungen und Kontaktbeschränkungen optimal aufeinander abstimmen lassen.“
Ein Modell mit verschiedenen Stellschrauben
Mit dem Modell der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lassen sich unter verschiedenen Bedingungen die Zahl der Corona-Infizierten und die damit verbundenen Anzahl an Patienten ermitteln, die intensiv-medizinisch behandelt werden müssen. Die Zahl der Menschen auf Intensivstationen ist wiederum mit der Zahl der Todesfälle verknüpft. Die Übertragung des Virus hängt dabei von der Zahl der Kontakte zwischen den Menschen ab, die zwischen verschiedenen Altersgruppen variiert. Die Übertragung lässt sich durch Kontaktbeschränkungen, die sich in Dauer und Stärke unterscheiden können, reduzieren. Außerdem berücksichtigt das Modell den Impffortschritt in verschiedenen Altersgruppen. Die Forschenden gingen dabei von einer 90prozentigen Wirksamkeit der Impfung aus. Nicht berücksichtigt haben sie den Einfluss von Tests auf das Infektionsgeschehen. „Tests wirken sich vermutlich bei beiden Strategien gleich aus, das haben wir allerdings nicht untersucht“, sagt Sara Grundel.
Mithilfe der verschiedenen mathematischen Stellschrauben untersuchten sie, wie sich unterschiedliche Vorgehensweisen beim Impfen auf die Zahl der intensivmedizinisch zu behandelnden Menschen auswirken und wie lange schwache beziehungsweise starke Kontaktbeschränkungen aufrecht erhalten werden müssen, um eine vorgegebene Kapazitätsgrenze der Intensivstationen nicht zu überschreiten. Diese Rechnungen führten sie dann auch für verschiedene Planungshorizonte aus. „Wir können mit dem Modell also verschiedene Fragen beantworten“, sagt Sara Grundel. „Zum Beispiel, welche Altersgruppe zuerst geimpft werden sollte, wie die Kontaktbeschränkungen bei fortschreitenden Impfungen kontinuierlichen gelockert werden können und welcher Betrachtungszeitraum notwendig ist, um Impfungen und Kontaktbeschränkungen langfristig optimal aufeinander abzustimmen.“
Die Forschenden sind sich bewusst, dass die Impfkampagnen zumindest in vielen Industrienationen weit fortgeschritten sind und dass sich die Impfstrategien während der laufenden Kampagnen kaum ändern lassen. „Das Coronavirus wird aber nicht wieder verschwinden, und wir werden auch künftig Impfungen brauchen, vor allem wenn es Mutationen gibt, gegen die aktuell verfügbare Impfstoffe nicht wirken“, sagt Sara Grundel. „Unsere Rechnungen zeigen, dass dann eine langfristige Abwägung von Impfungen und Kontaktbegrenzungen sowie eine Priorisierung jüngerer Menschen bei den Impfungen helfen könnten, die psychischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Auswirkungen der Einschränkungen zu minimieren.“