Symbolbild Foto: Bundesrat

Mit Bodo Ramelow steht erstmals ein Mitglied der LINKEN an der Spitze eines Verfassungsorgans des Bundes. Was ihm das bedeutet, wie man im Bundesrat Mehrheiten findet und welche Schwerpunkte er in den nächsten zwölf Monaten setzen möchte, verrät der neue Bundesratspräsident aus Thüringen im Interview zu seinem Amtsantritt am 1. November 2021.

Herr Präsident, was ging Ihnen nach der Wahl in Ihr neues Amt durch den Kopf?

Bodo Ramelow: Für mich ist die Wahrnehmung dieses Amtes eine große Ehre. In den nächsten zwölf Monaten möchte ich zeigen, welche wichtige Stütze der Bundesrat für die Demokratie in unserem Land ist. Ich habe dies in den letzten sieben Jahren als Mitglied des Bundesrates selbst praktisch erlebt, etwa bei den Themen Migration, Corona und den Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich. Hier war zu sehen, wie wir in ungewöhnlichen politischen Konstellationen zu guten Ergebnissen für unser Land kommen. Das ist die Stärke des Bundesrates. Dies nach außen zu tragen, wird mir ein wichtiges Anliegen und eine Ehre sein.

Was bedeutet es Ihnen, als erster Linker an der Spitze eines Verfassungsorgans des Bundes zu stehen?

Bodo Ramelow: Ich wiederhole an dieser Stelle, was ich 2014 zu meinem Amtsantritt als Ministerpräsident in Thüringen gesagt habe: Ich repräsentiere nicht meine Partei, sondern ich repräsentiere unser Land. Die Zugehörigkeit zu meiner Partei verschweige ich nicht. Dass nun ein Linker an der Spitze des Bundesrates steht, ist in der Tat etwas Besonderes. Dieses Amt ist aber – wie bei meinen Vorgängerinnen und Vorgängern auch – kein parteipolitisches. Der Bundesratspräsident oder die -präsidentin repräsentiert den Föderalstaat – und genau so werde ich es auch handhaben.

In Ihre Präsidentschaft fällt wahrscheinlich ein Novum: die erste Bundesregierung mit drei Koalitionspartnern. Für Sie ist das seit 2014 Alltag. Was ist Ihr Rezept für eine funktionierende Dreier-Regierung?

Bodo Ramelow: In Thüringen haben wir fünf Jahre lang mit einer Stimme Mehrheit regiert und seit zwei Jahren regieren wir sogar ohne eigene Mehrheit. Bei meinem Amtsantritt 2014 hat man mir lediglich 100 Tage gegeben! Ich bin überzeugt, dass eine verlässliche Zusammenarbeit nur auf Augenhöhe funktionieren kann. Das Bild von Koch und Kellner zerstört eine solche Beziehung. Das gilt für unsere Regierung, aber auch im Landtag, wo es darauf ankommt, die zwei demokratischen Oppositionsparteien in einer Kultur des gegenseitigen Respekts einzubinden. Es herrscht der Grundsatz, nicht nur auf das Parteibuch zu schauen, sondern vor allem auf die Inhalte und die zu lösenden Aufgaben. Damit kommen wir zu Ergebnissen, die uns die Bürgerinnen und Bürger manchmal gar nicht zutrauen.

Ohne den Bundesrat geht es in wichtigen Feldern der Bundespolitik nicht. Muss eine neue Bundesregierung den Bundesrat fürchten?

Bodo Ramelow: Ganz im Gegenteil. Die Bundesregierung kann vom Bundesrat lernen und wir können sogar viel Gemeinsames anstoßen. Wie das funktioniert, zeigt die Vergangenheit. Schauen Sie zurück auf die Gesetzgebung während der Pandemie: Viele dachten, ein Föderalstaat könne diese Herausforderung nicht bewältigen. Das Gegenteil ist der Fall. Hier war schnelles Handeln gefordert. Vielfach lagen zwischen den Abstimmungen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat nur wenige Tage. Über den Bundesrat waren auch Parteien eingebunden, die nicht an der Regierung beteiligt sind, wie GRÜNE, FDP und die LINKE. Diese Kooperation über unterschiedliche Parteilager hinweg ist ein ganz zentrales Merkmal für das Funktionieren unseres politischen Systems. Dies unterscheidet uns von Zentralstaaten und ist unsere große Stärke.

Nun ist der Bundesrat mittlerweile sehr bunt zusammengesetzt, was es teils schwierig macht, Mehrheiten für die eigene Position zu finden. Frustriert Sie das manchmal?

Bodo Ramelow: Nein, gar nicht. Manchmal wissen wir auch im Voraus, dass wir uns nicht durchsetzen können – und stellen trotzdem Anträge, um Flagge zu zeigen. Dann finden sich vielleicht erst im Laufe der Zeit Mitstreiter, die unsere Themen aufnehmen. Eine erste Abstimmung ohne Mehrheit ist kein Grund, sich von einem Thema zu verabschieden.

Außerdem ist es so, dass wir trotz der vielen unterschiedlichen Koalitionen in den Ländern im Bundesrat häufig gemeinsam wichtige Impulse gegenüber Bundesregierung und Bundestag setzen, denn hier geht es um Länderinteressen – oft jenseits der allgemeinen Parteienlogik. Der Bundesrat ist eben kein Parlament. Er ist die Versammlung der Landesregierungen, die an der Bundesgesetzgebung mitwirken. Um die Fragen von Regierung und Opposition geht es hier nicht, das spielt sich in den Landtagen ab.

Traditionell ist es noch immer so, dass sich am Tag vor den Plenarsitzungen die verschiedenen politischen Lager in den berühmten Kaminrunden getrennt koordinieren. Wie macht das die LINKE?

Bodo Ramelow: Bei mir sitzen in der Landesvertretung in Berlin dann die Bundesratsmitglieder aus Bremen, Berlin und Thüringen zusammen. Außerdem sind Vertreterinnen und Vertreter meiner Parteiführung und der Bundestagsfraktion anwesend. In dieser Runde gehen wir die Themen der Sitzung durch und besprechen unser Abstimmungsverhalten – und schauen, an welcher Stelle wir mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Kaminrunden zusammenarbeiten oder Mehrheiten finden können. Manchmal wird spontan untereinander telefoniert. Am nächsten Morgen treffen sich die Mitglieder der drei Parteien unserer Regierung zum Frühstück. Hier werden die letzten offenen Fragen geklärt – gelegentlich auch erst auf dem Weg von unserer Landesvertretung zum Bundesrat.

Politisch erscheint der Freistaat Thüringen manchen etwas rätselhaft: In dem linksgeführten Land gibt es auffällig viele AfD-Bundestagsdirektmandate. Wie passt das zusammen?

Bodo Ramelow: Die überdurchschnittliche Zahl von AfD-Mandaten geht auf die Erosion der Volksparteien zurück, die mir große Sorgen bereitet. Man könnte meinen, die Mehrheit der Menschen in Thüringen hätte diese Partei gewählt. Das war aber keine Mehrheit der Menschen, sondern hier zählte, wer von den Direktkandidatinnen bzw. -kandidaten die höchste Anzahl an Stimmen erhielt. Diese lag manchmal nur bei gut 20 Prozent. Das passiert, wenn die ehemals zwei großen Parteien ihre Bindungskraft verlieren und jetzt fünf kleinere Parteien zur Wahl stehen. Ich bedauere, dass in Westdeutschland häufig der Anschein entsteht, in Thüringen hätten alle AfD gewählt. Ich muss dann immer darauf verweisen, dass mehr als dreiviertel der Thüringerinnen und Thüringer dies gerade nicht getan haben.

Die Präsidentschaft Thüringens haben Sie unter das doppeldeutige Motto „ zusammen wachsen“ gestellt. Was steckt dahinter?

Bodo Ramelow: Das „zusammen wachsen“ steht für mehrere Dimensionen, zum Beispiel für das Zusammenwachsen von Ost und West. Das darf kein einseitiger Prozess sein, denn in Ostdeutschland praktizieren wir Vieles, was sich auch für Westdeutschland eignen könnte. Ich schaue hier etwa auf das längere gemeinsame Lernen in den Schulen, eine gute Kinderbetreuung oder das Modell der Gemeindeschwestern bei der medizinischen Versorgung auf dem Land. Wenn wir gemeinsam voneinander lernen, können wir auch gemeinsam stark werden und zusammen wachsen. Dafür steht das Motto – aber nicht nur, sondern auch für die Gemeinschaft von Jung und Alt, Stadt und Land, den hier Geborenen und den Menschen, die zugezogen sind.

Was nehmen Sie selbst ganz konkret in Angriff, um dem Motto Taten folgen zu lassen?

Bodo Ramelow: Das Amt des Bundesratspräsidenten ist ein repräsentatives. Die Macht, die ich habe, ist die Macht des Wortes. Ich kann Dinge erklären, Menschen zum Nachdenken bringen und mit ihnen in Dialog treten. Mein Anliegen ist es, gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen. Es lohnt sich immer, mal in die Schuhe des oder der anderen zu steigen und die andere Perspektive einzunehmen – im Kleinen wie im Großen, auf der persönlichen Ebene wie in internationalen Beziehungen. Das kann uns nur stärken.

Sie spielen auf das Verhältnis von West- und Osteuropa an …

Bodo Ramelow: Ja! Was wissen wir über Polen und Tschechien oder Rumänien? Wir müssen die Perspektive dieser Länder einnehmen, um sie zu verstehen. Vieles erinnert mich hier an den Blick aus Westdeutschland auf Thüringen nach der Bundestagswahl. Ähnlich schaut Westeuropa auf die Visegrád-Staaten. Ich halte das nicht für gut. Mir sind auch nicht alle Akteure in diesen Ländern sympathisch. Ich verstehe aber zum Beispiel die Ängste vieler Ungarn, von denen viele durch eine Hypothekenkrise um ihre Existenz gebracht worden sind. Bei diesen Problemen darf man nicht wegschauen, wie es heute oft in Europa geschieht. Nur mit dem gegenseitigen Verständnis lassen sich Dinge zugunsten Aller nachhaltig verbessern.

Rührt daher auch Ihre Motivation zur Stärkung des Weimar Dreiecks, d.h. der Zusammenarbeit von Deutschland, Frankreich und Polen?

Bodo Ramelow: Es war das Anliegen von Hans-Dietrich Genscher, zwei ganz unterschiedlich funktionierende Staaten – Polen und Frankreich – mit Deutschland zu verbinden. Dieser Gedanke beherrscht uns noch heute und dazu möchte ich u.a. mit dem Besuch in beiden Ländern beitragen. Ich kenne noch aus eigener Erfahrung die deutsche Teilung und das Europa der Grenzen. Das heutige Zusammenleben in Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Mit der Stärkung des Weimarer Dreiecks können wir ein gemeinsames Verständnis entwickeln und Ideen für ein starkes Europa gemeinsam umsetzen.

Geben Sie uns bitte zum Schluss noch einen Ausblick auf Ihre nächsten Termine als Bundesratspräsident.

Bodo Ramelow: Nach meiner Antrittsrede im Bundesrat in der Plenarsitzung am 5. November stehen die Veranstaltungen zum 9. November an erster Stelle. Wir erinnern hier an die Novemberrevolution 1918, den Schrecken der Reichspogromnacht 1938 sowie an den Fall der Berliner Mauer und die friedliche Revolution, bei der die Menschen in der DDR mit Kerzen in der Hand gegen eine bewaffnete Staatsmacht aufbegehrten. Dieser Mut war der Türöffner für die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. Was damals geschehen ist, müssen wir in ganz Deutschland würdigen und beherzigen – und nicht nur in Ostdeutschland.

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