In der Gesundheitsforschung wird geschlechtliche Vielfalt noch zu wenig erfasst. Das zeigt eine aktuelle Erhebung von Wissenschaftlerinnen des Instituts für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen. Eine Unterscheidung in die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ ist verbreitet, spiegelt aber nicht die Komplexität der biologischen und sozialen Dimensionen von Geschlecht wider.
Wie wird in der Gesundheitsforschung die geschlechtliche Vielfalt erfasst? Das hat ein Team um die Gesundheitswissenschaftlerinnen Sophie Horstmann und Gabriele Bolte vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen untersucht. „Das Geschlecht ist in der Gesundheitsforschung eine häufig genutzte Variable, die allerdings meistens auf eine einfache Unterscheidung in „männlich“ und „weiblich“ beschränkt wird“, erläutert Professorin Gabriele Bolte von der Universität Bremen.
Dies widerspreche dem aktuellen Forschungsstand der Natur- und Sozialwissenschaften, der sowohl für die physiologischen und anatomischen als auch die psychosozialen Ausprägungen von Geschlecht eine große Variationsbreite dokumentiere. „Für die Entwicklung geschlechtergerechter Gesundheitsangebote besteht aktuell ein großer Bedarf nach einer differenzierteren Erfassung in der Gesundheitsforschung, das heißt die Vielfalt innerhalb der Gruppen der „Frauen“, „Männer“ und anderen Geschlechtsidentitäten zu berücksichtigen“, betont die Professorin.
Die im International Journal for Environmental Research and Public Health erschienene Publikation aus dem Forschungsprojekt zeigt die Ergebnisse einer Übersichtsarbeit, die zum Ziel hatte, den aktuellen Forschungsstand im Hinblick auf die Erfassung von geschlechtlicher Vielfalt in der quantitativen Gesundheitsforschung abzubilden. Ein Ergebnis ist, dass immer noch am häufigsten in Befragungen ein Instrument angewendet wird, das basierend auf geschlechtlichen Rollenerwartungen von amerikanischen Studierenden der 70er Jahre entwickelt wurde.
„Es hat uns gefreut zu sehen, dass die Entwicklung und Anwendung von Instrumenten, die die Variabilität von Geschlecht erfassen, in den vergangenen Jahren angestiegen sind. Ein Beispiel ist, nicht nur die zwei Antwortfelder „männlich“ und „weiblich“ vorzugeben, sondern sowohl das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht als auch die aktuelle eigene Geschlechtsidentität zu erfragen“, sagt Sophie Horstmann, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt am Institut für Public Health und Pflegeforschung arbeitet. „Allerdings zeigt sich an dieser Stelle auch der Bedarf nach einer Weiterentwicklung. Insbesondere die Erfassung verschiedener Dimensionen des biologischen Geschlechts, sei es auf der Ebene von Chromosomen, inneren Geschlechtsorganen oder Hormonen, findet bisher erst wenig Berücksichtigung.“
Das Bundesministerium für Gesundheit fördert seit Mai 2020 das Projekt DIVERGesTOOL (Toolbox zur Operationalisierung von geschlechtlicher Vielfalt in der Forschung zu Gesundheitsversorgung, Gesundheitsförderung und Prävention). In diesem interdisziplinären Forschungsprojekt unter der Leitung von Professorin Gabriele Bolte arbeitet die Abteilung für Sozialepidemiologie des Instituts für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen eng mit den Gender Studies der Humboldt Universität zu Berlin und der Gendermedizin der Radboud University in Nijmegen zusammen.
Das Projekt hat zum Ziel, eine Toolbox zu entwickeln, die Forschende bei der adäquaten Erfassung von Geschlecht und seiner großen Variationsbreite in der Forschung zu Gesundheitsversorgung, Gesundheitsförderung und Prävention unterstützt. Die Ergebnisse der Übersichtsarbeit sollen direkt in den Entwicklungsprozess der Toolbox einfließen. Das Projekt DIVERGesTOOL zeichnet sich durch seinen partizipativen Ansatz aus: Mehrere große Kohortenstudien der Gesundheitsforschung in Deutschland wirken in dem Projekt von Beginn an mit.
Originalpublikation: Horstmann, S.; Schmechel, C.; Palm, K.; Oertelt-Prigione, S.; Bolte, G. The Operationalisation of Sex and Gender in Quantitative Health–Related Research: A Scoping Review. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19, 7493. https://doi.org/10.3390/ijerph19127493