Symbolbild Foto: NGG

In den nächsten Tagen berät der Bundestag in erster Lesung das Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz. Der Regierungsentwurf reagiert auf Skandale in der Fleischindustrie, die durch massive Corona-Fälle in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt sind. Wissenschaftler/innen des Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) untersuchen seit 2017 die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Auf der Grundlage der in der Studie ermittelten Befunde zeigen sich Reichweite und Grenzen der geplanten Regulierung.

„Unsere Untersuchung zeigt, dass die Ausbeutung der Beschäftigten in der fleischverarbeitenden Industrie in einer mehrfachen Prekarität begründet ist“, sagt SOFI-Forscher Peter Birke. Dazu gehören die Arbeitssituation, aber auch die Unterbringungssituation sowie mangelnde Aufenthalts- und Sozialrechte. „Der Gesetzesentwurf greift eines dieser Momente auf,“ so Birke. „Die Abschaffung von Werkverträgen und Leiharbeit sind Schritte, die Verwundbarkeit der Beschäftigten zu verringern.“ SOFI-Untersuchungen in Betrieben, die die Werkverträge bereits seit längerer Zeit abgeschafft haben, zeigen aber, dass diese oft auf befristete Verträge zurückgreifen, die eine ähnliche Abhängigkeit der Beschäftigten schaffen wie die Werkverträge.

„Damit das Gesetz gelebt werden kann, müssen Beschäftigte eine erweiterte Mitbestimmung erreichen, zum Beispiel über Betriebsräte und Gewerkschaften“, betont SOFI-Forscher Felix Bluhm. Der Gesetzesentwurf hat aber gerade in Bezug auf die Mitbestimmung Lücken. So muss die elektronische Arbeitszeiterfassung von Beschäftigten und Gewerkschaften eingesehen werden können, um die in diesem Bereich beobachteten Verstöße gegen bereits bestehende Regeln einzuschränken. Schließlich ist eine erweiterte Kontrolle des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sofort umzusetzen, und nicht − wie vorgesehen − bis 2026. „Die Duldsamkeit, die diese Bestimmung zum Ausdruck bringt, ist nicht auf der Höhe der Zeit, wenn man bedenkt, welche drastischen Verstöße zuletzt beobachtet wurden“, ergänzt Bluhm.

Das größte Problem besteht aber in der Frage des Wohnraums. In der vorgesehenen Änderung der Arbeitsstättenverordnung wird auf der Grundlage einer Neunormierung als „Gemeinschaftsunterkünfte“ eine Verknüpfung von Arbeitsvertrag und Wohnrecht hergestellt. Peter Birke konstatiert: „Damit wird eine bis dato rechtswidrige Praxis legalisiert, die in hunderten Fällen dazu geführt hat, dass Beschäftigte nach ihrer Entlassung in die Obdachlosigkeit getrieben wurden. Der Gesetzesentwurf ist in dieser Hinsicht nicht nur unzureichend, sondern ein echter Rückschritt. Wir schließen uns der diesbezüglichen Kritik von Kirchen und Gewerkschaften an.“ Insgesamt sei das Gesetzgebungsverfahren eine seltene Chance, die mehrfache Prekarität der Arbeitenden zu reduzieren: „Um ihnen erweiterte Möglichkeiten zu einem würdigen und selbstbestimmten Leben zu schaffen, müssen die Schwächen und Widersprüche, die der derzeitige Regierungsentwurf enthält, jedoch dringend korrigiert werden,“ bilanziert SOFI-Direktorin Nicole Mayer-Ahuja die Einschätzung der Forschenden.

Weitere Informationen: www.sofi.uni-goettingen.de

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