Der 126. Deutsche Ärztetag in Bremen hat den Gesetzgeber in einem mit überwältigender Mehrheit gefassten Beschluss aufgefordert, wichtige Reformen im Gesundheitswesen jetzt umzusetzen.
„Insbesondere sind die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen patientengerecht, sektorenverbindend und digital vernetzt auszugestalten“, forderten die Abgeordneten. Zudem sei die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger zu stärken sowie die Forschungsförderung zur Pandemieprävention auszubauen. Der Beschluss im Wortlaut:
„In der Corona-Pandemie haben sich die ambulanten und stationären Strukturen des Gesundheitswesens nicht zuletzt dank des beispiellosen Einsatzes von Ärztinnen und Ärzten sowie vieler weiterer Gesundheitsfachberufe als belastbar erwiesen. Dennoch wurden in der Krise auch Defizite deutlich. Neben wichtigen kurzfristigen Reformen zur Verbesserung der Krisenreaktionsfähigkeit Deutschlands gilt es, auch strukturell die richtigen Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Insbesondere sind die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen patientengerecht, sektorenverbindend und digital vernetzt auszugestalten.
Die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger ist im Sinne eines effektiven Compliance-Managements als Grundvoraussetzung erfolgreicher Krisenbewältigung zu stärken.
Die Forschungsförderung ist insbesondere im Hinblick auf medizinisch-wissenschaftliche Arbeiten zur Pandemieprävention sowie zum Pandemiemanagement auszubauen und zu verstetigen. Insbesondere darf es keine Verzögerungen bei der Ausarbeitung der für diesen Sommer für die Bundesregierung angekündigten interdisziplinären wissenschaftlichen Evaluation der bislang ergriffenen Pandemieeindämmungsmaßnahmen geben.
Strukturen des Gesundheitswesens an Menschen ausrichten
Bei den anstehenden Reformen im Gesundheitswesen muss immer der Mensch der Maßstab des politischen Handelns sein. Die Ausgestaltung der ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen, die Versorgungsplanung, die Vergütung sowie die digitale und personelle Vernetzung der Versorgungsbereiche müssen sich an dem tatsächlichen Bedarf der Patientinnen und Patienten orientieren und nicht ausschließlich an ökonomischen Parametern oder an einem überkommenen Sektorendenken ausrichten.
- Krankenhausreform jetzt angehen!
Der 126. Deutsche Ärztetag 2022 begrüßt die Ankündigung der Bundesregierung für eine umfassende und grundlegende Reform der Krankenhausstrukturen in Deutschland. Ohne tiefgreifende Veränderungen droht in absehbarer Zeit ein Kollaps der stationären Versorgung. Notwendig ist eine Krankenhausvergütungsstruktur, die sich aus pauschalierten Vergütungskomponenten zur Deckung von fallzahlunabhängigen Vorhaltekosten, aus fallzahlabhängigen Vergütungsanteilen sowie aus einem Budget zur Strukturqualität zusammensetzt. Die bereits umgesetzte Ausgliederung der Personalkosten in der Pflege aus dem G-DRG-System ist auch auf Ärztinnen und Ärzte auszudehnen. Eine dauerhafte additive Kofinanzierung der Krankenhausinvestitionskosten durch den Bund ist unter Wahrung der grundgesetzlich verbrieften Krankenhausplanungshoheit der Länder umzusetzen. - Endlich handeln und sektorenverbindende Versorgung umsetzen!
Ein Gesundheitswesen, das den Bedarf der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellt, erfordert Konzepte für eine moderne sektorenverbindende Versorgungsplanung, für eine engere personelle und digitale Verknüpfung der Sektoren sowie für neue interprofessionelle Kooperationsmodelle. Die im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP angekündigten Maßnahmen für eine stärker sektorenverbindende Versorgung wären erste Schritte in diese Richtung. Der 126. Deutsche Ärztetag fordert die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der Bundesärztekammer konkrete Reformeckpunkte für den Ausbau sektorenverbindender Kooperation, Planung und Vergütung zu entwickeln. Die Ärzteschaft verfügt über jahrelange Erfahrung im Aufbau von unterschiedlichen Modellen der integrierten sowie der strukturierten haus- und fachärztlichen Versorgung, von Praxisnetzen, regionalen Gesundheitszentren und überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaften, die sie in die Beratungen einbringen kann. Haus- und fachärztliche Praxen sind zu stärken, die Niederlassung ist zu fördern; nur so kann die Tendenz zur Anstellung und Teilzeittätigkeit ermöglicht und der Kommerzialisierung entgegengewirkt werden. Dabei gilt es insbesondere, bewährte Strukturen zu erhalten und auszubauen. - Notstand in Notaufnahmen beenden!
Die Neuausrichtung der Notfallversorgung in Deutschland ist nicht nur versorgungspolitisch dringend erforderlich, sie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Strukturen für eine moderne sektorenverbindende Versorgung zu schaffen. Der 126. Deutsche Ärztetag fordert, bestehende Versorgungsangebote, wie Portalpraxen und Bereitschaftsdienstpraxen an Krankenhäusern, unter Einbeziehung der Ärztekammern weiterzuentwickeln und auf die Planung eines gänzlich neuen Versorgungsbereichs zu verzichten. Die Planungsvorgaben durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sind auf ein erforderliches Mindestmaß zu beschränken. - Digitalisierung der Praxen nicht nur fordern, sondern fördern!
Ärztinnen und Ärzte aus allen Fachrichtungen stehen digitalen Anwendungen im Praxisalltag grundsätzlich positiv gegenüber. Um die Potenziale einer vernetzten Medizin zu nutzen, sind jedoch enorme Investitionen in den digitalen Ausbau der Praxen notwendig. Der 126. Deutsche Ärztetag fordert den Gesetzgeber auf, in Analogie zum Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) ein Praxiszukunftsgesetz zu beschließen, das Investitionsförderungen im Sinne der digitalen Vernetzung und Kommunikation zwischen den an der Versorgung beteiligten Einrichtungen sicherstellt. Die hierfür erforderlichen Mittel sind durch den Bund und die Länder zur Verfügung zu stellen. - Sichere und praxistaugliche digitale Anwendungen schaffen!
Der 126. Deutsche Ärztetag fordert für alle digitalen Anwendungen, die in der Patientenversorgung zum Einsatz kommen sollen, umfangreiche Tests vor einem verpflichtenden bundesweiten Rollout. Digitale Anwendungen dürfen nur dann etabliert werden, wenn sie praxistauglich sind, wenn sie die Sicherheit der Daten von Patientinnen und Patienten gewährleisten und einen echten Mehrwert in der Versorgung bieten. Dies gilt insbesondere für den aktuell vorgesehenen Rollout von elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und elektronisches Rezept. Notwendig ist eine Priorisierung bei der Einführung digitaler Anwendungen und somit eine realistische und transparente versorgungsorientierte Digitalstrategie. Der 126. Deutsche Ärztetag fordert, dass sich die Bundesregierung die nächsten zwölf Monate auf die Einführung des Notfalldatensatzes und auf die sichere Kommunikation im Gesundheitswesen fokussiert. Parallel dazu ist durch die Etablierung einer dauerhaften Testregion die Möglichkeit zu schaffen, die weiteren digitalen Anwendungen, deren Funktionalität und Praxistauglichkeit unter realen Bedingungen zu erproben. - Multiprofessionelle Zusammenarbeit ausbauen!
Die persönliche Leistungserbringung ist eines der Wesensmerkmale freiberuflicher Tätigkeit von Ärztinnen und Ärzten. Dies schließt nicht aus, dass Ärztinnen und Ärzte verstärkt kooperative Formen der Zusammenarbeit mit anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen sowie das Arbeiten im Team im Sinne einer differenzierten und abgestimmten multiprofessionellen Patientenversorgung anstreben. Unerlässlich ist, dass innerhalb dieser Teams Qualifikationen, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche unter Berücksichtigung ärztlicher Kernkompetenzen und Vorbehaltsaufgaben klar zugewiesen und definiert sind. Unter diesen Voraussetzungen können und sollten Konzepte für einen interdisziplinären, multiprofessionellen und ganzheitlichen Behandlungs- und Betreuungsansatz entwickelt werden. Die Ärzteschaft ist zudem offen für eine an den Versorgungserfordernissen orientierte Entwicklung neuer Berufsbilder bzw. für eine Anpassung bestehender Gesundheitsfachberufe an die sich ändernden Anforderungen in der Patientenversorgung. Anstelle der Einführung akademischer Ausbildungsebenen für Gesundheitsfachberufe sieht der 126. Deutsche Ärztetag den Weg, akademische Qualifizierungen in Form von Studiengängen für bestimmte Funktionen vorzusehen, als zielführend an. - Gesundheitskompetenz stärken – „Health in All Policies“ umsetzen In einer Gesellschaft des langen Lebens sind neben diesen strukturellen Reformen Maßnahmen notwendig, die auf die Gesunderhaltung der Bürgerinnen und Bürger und einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gesundheit abzielen. Nie war die Vermittlung von Gesundheitskompetenz in der Allgemeinbevölkerung so wichtig wie in der Pandemie. Neben grundsätzlichem Wissen zu COVID-19, zu Ansteckungswegen und Hygienemaßnahmen mussten und müssen den Menschen fundierte, verständliche und zielgruppengerechte Informationen zu den in sozialen Medien kursierenden Fake News, insbesondere zu Corona-Schutzimpfungen, an die Hand gegeben werden. Konkret sollte das Nationale Gesundheitsportal unter der Federführung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bzw. des neu zu gründenden Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit weiterentwickelt und ausgebaut sowie sein Bekanntheitsgrad deutlich erhöht werden. Die Bemühungen um die Förderung der Gesundheitskompetenz dürfen sich nicht nur auf den Gesundheitssektor beschränken. Vielmehr muss die Vermittlung von Gesundheitskompetenz im Sinne der Salutogenese in allen Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger gefördert werden.
Der 126. Deutsche Ärztetag bekräftigt, dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur der Gesundheit des Einzelnen verpflichtet sind, sondern der Gesunderhaltung der Gesellschaft als Ganzes. Die Ärzteschaft unterstützt den Ansatz von „Health in All Policies“ (HiAP). Dieser bezieht neben der Gesundheitspolitik unter anderem auch die Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Stadtentwicklungs-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik ein. In allen diesen Politikbereichen können Maßnahmen getroffen werden, die gesundheitsförderlich wirken, selbst wenn sie Gesundheit nicht explizit thematisieren. Dies sind beispielsweise Maßnahmen gegen Altersarmut und -einsamkeit, zur Schaffung gesundheitsfördernder Wohn- und Lebensverhältnisse, zur Grundsicherung oder zur Begrenzung von Kinder- und Familienarmut.
Obwohl es in Deutschland zahlreiche vielversprechende Ansätze insbesondere auf kommunaler Ebene gibt, ist eine strukturierte bereichsübergreifende Zusammenarbeit aller in diesem Kontext relevanten Akteure noch nicht erreicht worden. Hierfür bedarf es einer Präventionsstrategie im Sinne von HiAP unter Beteiligung aller Akteure, von den Kommunen über die Länder bis hin zu den zivilgesellschaftlichen Gruppen aus allen gesundheitsrelevanten Bereichen, insbesondere auch der verfassten Ärzteschaft.“