Die Sterblichkeit von Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeheime in Deutschland ist in den ersten beiden Pandemiewellen drastisch angestiegen. Lag die Letalität in Pflegeheimen bereits rund drei Wochen nach Start des ersten Lockdowns (6. bis 12. April 2020) um 20 Prozent höher als im Mittel der Vorjahre, so überstieg sie in den ersten drei Monaten der zweiten Pandemiewelle von Oktober bis Dezember 2020 das Niveau der Vorjahre um durchschnittlich 30 Prozent. In der Spitze lag die Übersterblichkeit in der 52. Kalenderwoche 2020 sogar bei 80 Prozent. Dies zeigt der Pflege-Report 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Er enthält zudem die Ergebnisse einer Angehörigen-Befragung.
„Die Infektionsschutzmaßnahmen während der Pandemie reichten nicht aus, um die im Heim lebenden pflegebedürftigen Menschen ausreichend zu schützen“, sagt Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO und Mitherausgeberin des Pflege-Reports. Diese grundlegende Erkenntnis muss für zukünftige Pandemiekonzepte ebenso berücksichtigt werden wie die deutlichen gesundheitlichen Folgen für die Pflegebedürftigen, insbesondere auch die psychischen Belastungen durch die Isolation. Denn wie eine Angehörigen-Befragung des WIdO mit Blick auf die erste Pandemiewelle ergeben hat, waren die Einschränkungen für pflegebedürftige Menschen im stationären Bereich deutlich spürbar. Für 43 Prozent der befragten Angehörigen war ein persönlicher Kontakt zu den Pflegebedürftigen zwischen März und Mai 2020 nicht möglich. Eine Verschlechterung der geistigen Fitness wie auch der psychischen Gesundheit aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen haben rund zwei Drittel der Befragten wahrgenommen.
Die Ergebnisse des Pflege-Reports sind Bestandteil des vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) geförderten Forschungsprojekts „Covid-Heim“, das die Charité – Universitätsmedizin Berlin in Kooperation mit dem WIdO durchführt. Für alle Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen wurde unter anderem nach Kalenderwochen analysiert, wie sich die Sterblichkeit entwickelt hat. Ort und Ursache des Versterbens spielten dabei keine Rolle. Die Analysen weisen auch auf Phasen mit deutlich erhöhter Sterblichkeit unabhängig von Covid-19 in den Jahren zuvor hin. „Die naheliegenden Ursachen wie Grippe- und Hitzewellen gilt es gleichfalls weiter zu untersuchen und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Pflegeheimbewohnenden in den Blick zu nehmen“, sagt Antje Schwinger.
Jeder dritte Covid-19-Fall über 60 im 2. Quartal 2020 aus Pflegeheimen
In der zweiten Pandemiewelle verstarben von Oktober bis Dezember 2020 (Kalenderwochen 40 bis 52) durchschnittlich neun von 1.000 Pflegeheimbewohnenden, was eine Übersterblichkeit von 30 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren 2015 bis 2019 bedeutet. Bis Anfang Dezember (49. Kalenderwoche) erhöhte sich die Sterblichkeit deutlich und lag am Ende des Jahres mit 13 Verstorbenen je 1.000 Pflegeheimbewohnenden um 81 Prozent höher als in den entsprechenden Vorjahreswochen. Am Beispiel der ersten Welle – hier liegen neben den Abrechnungsdaten aus den Krankenhäusern auch die ambulant-ärztlichen Daten bereits vor – wird das Ausmaß der Pandemie-Betroffenheit von Pflegeheimen besonders deutlich. Im Zeitraum April bis Juni 2020 entfiel jede dritte Covid-19-Diagnose (33 Prozent) bei über 60-Jährigen auf Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen. Einbezogen wurden alle Versicherten ab 60 Jahren mit einer dokumentierten Krankenhausdiagnose oder gesicherten ambulant-ärztlichen Covid-19-Diagnose und durchgeführtem PCR-Test. Bezogen auf die im Krankenhaus Versorgten mit einer Covid-19-Diagnose zeigt sich ein ähnliches Bild: Hier lag der Anteil der vollstationär Pflegebedürftigen bei 30 Prozent. Ob die Covid-19-Infektion der Auslöser der Krankenhauseinweisung war oder erst während des Aufenthalts erworben wurde, kann auf Grundlage der Daten jedoch nicht differenziert werden.
Der Anteil der Krankenhauspatienten über 60 Jahren, die im Zeitraum von April bis Juni 2020 mit einer Covid-19-Diagnose verstarben, lag bei vollstationär Pflegebedürftigen bei 45 Prozent. Bei denen, die nicht oder ambulant pflegebedürftig waren, betrug die Sterblichkeit hingegen nur 25 Prozent. Vor allem die jüngeren Kohorten haben hier eine deutlich erhöhte Letalität: Während 36 Prozent der 60- bis 64-Jährigen Pflegeheimbewohnenden verstarben, wenn sie mit Covid-19 im Krankenhaus waren, lag die Rate bei den Nicht-Pflegeheimbewohnenden bei nur 9 Prozent. Die Sterbewahrscheinlichkeiten der beiden Gruppen nähern sich mit steigendem Alter an. „Pflegeheimbewohnende dürften aufgrund ihrer hohen Multimorbidität deutlich eher als andere Personengruppen gleichen Alters verstorben sein, wenn sie an Covid-19 erkrankten“, so Antje Schwinger.
Erhebliche Einschränkungen der sozialen Teilhabe in der ersten Corona-Welle
Der WIdO-Pflege-Report 2021 berichtet auch über eine Online-Befragung zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die ambulant und vollstationär Pflegebedürftigen. Insgesamt wurden im Zeitraum vom 26. Oktober bis 13. November des vergangenen Jahres 1.012 Angehörige befragt, rund 500 hiervon waren Bezugspersonen von stationär Pflegebedürftigen. Mit Blick auf die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und Aktivität wird deutlich, dass ein Großteil der pflegebedürftigen Personen drastische Einschränkungen in Kauf nehmen musste: 43 Prozent der befragten Bezugspersonen berichten, dass zwischen März und Mai 2020 die Möglichkeit zum persönlichem Kontakt, auch unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen, gar nicht gegeben war. Für ein weiteres knappes Drittel (30 Prozent) war diese Möglichkeit nur selten gegeben. Nach Angaben der Bezugspersonen war es 16 Prozent der pflegebedürftigen Personen nicht möglich, das eigene Zimmer zu verlassen, weiteren 25 Prozent war es nur selten möglich. Damit hatten 36 Prozent der pflegebedürftigen Personen, die vor der Pandemie täglich oder mehrmals in der Woche das Zimmer verlassen haben, diese Möglichkeit während des ersten Lockdowns gar nicht oder nur selten.
Die Angehörigen haben während der Pandemie deutlich negative Veränderungen des körperlichen, geistigen und psychischen Zustands der pflegebedürftigen Person durch die Corona-bedingten Einschränkungen im Zeitraum von März bis Mai 2020 beobachtet. Mehr als 70 Prozent berichten über häufigere Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein seitens der pflegebedürftigen Person, häufigere Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit (68 Prozent), Verschlechterungen der geistigen Fitness der pflegebedürftigen Person (61 Prozent) sowie verringerte Beweglichkeit beim Gehen, Aufstehen oder Treppensteigen (56 Prozent). „Die ergriffenen scharfen Isolationsmaßnahmen in den Pflegeheimen in der ersten Pandemiewelle haben dramatische Auswirkungen für die Pflegebedürftigen, und zwar physisch und psychisch“, so Antje Schwinger.
Insgesamt zeichnet die Untersuchung ein kritisches Versorgungsbild der vulnerablen Bevölkerungsgruppe der Pflegeheimbewohnenden. Maßnahmen, die die pflegebedürftigen Menschen vor einer Ansteckung mit Covid-19 schützen sollten, führten gleichermaßen zu erheblichen Einschnitten in der Versorgung sowie in der Folge zu starker sozialer Isolation und einer Zunahme psychischer Belastungen. „Deshalb muss untersucht werden, wie Isolation, Kontaktsperren zu Angehörigen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner beeinflussten und welche technischen, baulichen, rechtlichen und personellen Veränderungen und Ressourcen benötigt werden, um zu vermeiden, dass sich eine solche Situation wiederholt“, so Schwinger.
Was auf keinen Fall noch einmal zur Gefährdungsvermeidung herangezogen werden dürfe, sei die generelle Isolierung alter Frauen und Männer von der Außenwelt und ihren Angehörigen. „Wir sollten – die Situation der Betroffenen vor Augen – die Pandemie zum Anlass für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs nehmen, was uns eine menschenwürdige Versorgung im Alter als Gesellschaft wert ist“, sagt Schwinger und ergänzt: „Die im Eiltempo beschlossene jüngste Pflegereform im Zuge des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) kann diesen Anspruch jedenfalls nicht erfüllen.“
Pflege-Report 2021 mit Schwerpunkt „Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen“
Der Pflege-Report 2021 hat das Schwerpunktthema „Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen“. Neben den dargelegten Auswertungs- und Umfrageergebnissen liefert der Band eine medizinethische Einordnung der Covid-19-Maßnahmen für Pflegebedürftige sowie vertiefende Analysen zur Belastung insbesondere berufstätiger Angehöriger durch die Pandemie. Er gibt ferner Einblicke ins Betriebliche Gesundheitsmanagement unter Pandemiebedingungen. Der zweite Teil des Pflege-Reports 2021 greift die Frage auf, wie die Pflege perspektivisch sichergestellt werden kann. Neben den Bedarfslagen von pflegebedürftigen Menschen werden bestehende Angebotsstrukturen analysiert und Entwicklungspotenziale aufgezeigt.
Originalpublikation: Jacobs/Kuhlmey/Greß/Klauber/Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2021. Schwerpunkt: Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen. Springer (Heidelberg); 292 Seiten, 100 Abb. in Farbe, ISBN: 978-3-662-63106-5