Das soziale Leben kann mit steigender Zahl geimpfter Personen wieder an Fahrt aufnehmen – und zwar umso mehr, je besser das Infektionsgeschehen jetzt kontrolliert wird. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team um Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in einer aktuellen Studie.
Die Forschenden haben berechnet, wie stark die sozialen Kontakte bei fortschreitenden Impfungen zunehmen können, ohne dass die Zahl der Covid-19-Fälle steigt. Demnach werden schneller deutlich mehr soziale Kontakte möglich, wenn die Infektionszahlen zunächst so stark sinken, dass die Gesundheitsämter die Kontaktpersonen von Virusträgern wieder effektiv verfolgen und isolieren können. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rechnen zudem vor, dass es trotz der Impfung aller Menschen über 80 zu einer Überlastung der Intensivstationen und tausenden Todesfällen kommen kann. Und sie warnen davor, dass das Coronavirus umso schneller Varianten entwickelt, die den Impfschutz zumindest teilweise umgehen, je höher die Fallzahlen während der Impfkampagne liegen.
Das Coronavirus Sars-CoV-2 bedroht längst nicht nur Menschen über 80. Auch von den 60- bis 79-Jährigen Covid-19-Patientinnen und Patienten müssen etwa fünf Prozent intensivmedizinisch behandelt werden, und mehr als zehn Prozent dieser schwer erkrankten Menschen sterben. Bei den Infizierten im Alter von 40 bis 59 muss immer noch etwa ein Prozent auf die Intensivstation, und fast sieben Prozent der schwer erkrankten Menschen in dieser Altersgruppe überlebt die Infektion nicht. Alleine die über 80-Jährigen zu impfen, bringt daher noch keine Entspannung in der Epidemie. Viola Priesemann und ihr Team belegen mit ihren aktuellen Rechnungen, dass die Krankenhäuser immer noch an ihre Grenzen kommen und viele Menschen sterben, wenn die Fallzahlen hoch sind. Die Studie wurde vorveröffentlicht und hat noch nicht den Begutachtungsprozess eines wissenschaftlichen Journals durchlaufen.
Fünf Szenarien für Lockerungen während der Impfkampagne
„Wir stehen am Scheideweg, ob wir bei niedriger Inzidenz öffnen oder bei hoher“, sagt die Physikerin. „Die Öffnungsschritte sind in beiden Fällen so gut wie gleich, aber die Anzahl der Menschen mit long Covid und der Todesfälle ist bei hoher Inzidenz viel größer, wobei zunehmend Jüngere betroffen sind. Um niedrige Inzidenzen zu halten oder zu erreichen, müssen wir uns noch ein wenig gedulden, können dann aber sogar etwas schneller öffnen als bei hohen Fallzahlen.“
Das Göttinger Max-Planck-Team simulierte in verschiedene Szenarien, wie es sich jeweils auf die Zahlen der Covid-19-Fälle auswirkt, wenn die Beschränkungen im öffentlichen Leben mit den fortschreitenden Impfungen unter unterschiedlichen Bedingungen gelockert werden. Dabei machten sie verschiedene, mit gewissen Unsicherheiten behaftete Annahmen zur Ausbreitung des Virus und zur Stärke des Impfschutzes. So gingen sie davon aus, dass die Impfungen im Schnitt einen 90-prozentigen Schutz gegen einen schweren Krankheitsverlauf sowie einen 75-prozentigen Schutz gegen eine Übertragung der Infektion bieten und dass sich 80 Prozent der Menschen über 20 Jahre impfen lassen. In einem ersten Szenario werden die Maßnahmen sofort weitgehend gelockert. In Folge dessen würden sich die Intensivstationen innerhalb weniger Wochen füllen. „Damit deren Kapazität nicht überschritten wird, müssen die Einschränkungen dann wieder verschärft werden“, sagt Viola Priesemann. „Die Freiheit wäre also nur von kurzer Dauer.“
Abgestimmt auf den Impffortschritt sind vorsichtige Lockerungen möglich
In drei Szenarien berechneten die Göttinger Forschenden die Entwicklung von Fall- und Todeszahlen sowie der Auslastung der Intensivstationen, wenn die Beschränkungen in unterschiedlichen Stadien der Impfkampagne reduziert werden. Vorsichtige Lockerungen sind dabei kontinuierlich, aber abgestimmt auf den Impffortschritt möglich. Die drei Szenarien unterscheiden sich allerdings darin, wann die Einschränkungen weitgehend aufgehoben werden; nämlich sobald sich die Menschen über 80, über 60 beziehungsweise über 20 impfen lassen konnten. In allen drei Fällen kommt es dann zu weiteren, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägten Infektionswellen, die die Intensivstationen an ihre Grenzen bringen – selbst dann, wenn alle über 20-Jährigen bereits die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. „Das liegt schlicht daran, dass auch die beste derzeit bekannte Impfung nicht zu 100 Prozent gegen einen schweren Verlauf schützt“, erklärt Viola Priesemann. Außerdem müsse man berücksichtigen, dass sich nicht alle Menschen impfen lassen wollen oder können, und dass der Impfstoff für Kinder und Jugendliche nicht zugelassen ist. „Dass die Immunisierung mit der Zeit nachlässt oder dass sich neue Virusvarianten ausbreiten, ist hier nicht mal eingerechnet“, sagt Simon Bauer, der an den Rechnungen maßgeblich beteiligt war.
Solange sich keine neuen ansteckenderen Virusvarianten ausbreiten, müssten aber nur noch geringe Vorsichtsmaßnahmen aufrechterhalten werden, um nach Impfangeboten für alle über 20-Jährigen eine erneute Welle zu verhindern: Die Einhaltung der AHA+LA Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, Lüften, Corona-Warn-App), vermehrte Tests sowie der Verzicht auf große Veranstaltungen dürften dann schon reichen, um die Inzidenz niedrig zu halten. Mit umfangreichen Lockerungen zu warten, bis sich alle Menschen über 20 impfen lassen konnten, wird dabei bis zum Ende der Impfkampagne etwa 9600 Menschenleben weniger kosten – verglichen mit weitgehenden Öffnungen, nachdem allen über 80-Jährigen eine Impfung angeboten wurde. „Rein aus ethischen Gründen empfiehlt es sich, die Maßnahmen frühestens dann aufzuheben, wenn alle Personen über 20 ein Impfangebot hatten“, sagt Viola Priesemann.
Den größten epidemiologischen Effekt hätte es im Vergleich zu sofortigen weitgehenden Öffnungen, wenn die Fallzahlen dauerhaft so niedrig gehalten werden, dass die Gesundheitsämter einen deutlichen Beitrag zur Eindämmung der Epidemie leisten können. Die Erfahrung aus der zweiten Welle zeigt, dass dafür die beobachtete Inzidenz deutlich unter 50 liegen müsste. „Dann müssen wir mit etwa 7000 weiteren Todesfällen rechnen, verglichen mit mehr als 27.000 Toten, wenn die Einschränkungen aufgehoben werden, nachdem alle über 80-Jährigen ein Impfangebot hatten“, sagt Simon Bauer „Die Anzahl der Intensivpatienten und long-Covid Fälle reduziert das sogar noch deutlicher.“
Bei hohen Fallzahlen lernt das Virus, den Impfschutz zu unterlaufen
Bei dem Szenario mit niedrigen Fallzahlen ist zudem die Gefahr am geringsten, dass das Virus mutiert und den Impfschutz unterläuft. Denn wenn sich viele Menschen mit Sars-CoV-2 anstecken, kann das wie ein Trainingslager für das Virus wirken. Die Virusvarianten, die vom Immunsystem nicht gleich erkannt werden, haben eine bessere Chance, sich zu vermehren und dann in der Bevölkerung auszubreiten. Diese Virusvarianten heißen deswegen Fluchtmutanten: Gegen sie sind die Impfungen weniger wirksam. Im ärgsten Fall muss wegen einer Fluchtmutante mit dem Impfen wieder ganz oder teilweise von vorne begonnen werden. Das wäre eine immense Belastung für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft. Viola Priesemann betont daher: „Allein um das Entstehen und das Ausbreiten einer Fluchtvariante in Deutschland zu verzögern, wäre es wichtig, die Fallzahlen so niedrig wie möglich zu halten.“
Immerhin dürfte es in den kommenden Monaten einfacher werden, die Inzidenz zu senken. Denn nach dem deutschen und dem europäischen Impfplan wird die Immunität der Bevölkerung wachsen, und auch die Saisonalität der Epidemie wird einen Effekt haben. „Es kommt darauf an, den Fortschritt des Impfens als Maßstab für die Öffnungen zu nehmen. Öffnen wir schneller als der Impffortschritt es erlaubt, sind die Intensivstationen innerhalb von Wochen wieder voll. Wenn wir ein kleines bisschen langsamer öffnen und keine Fluchtmutanten auftreten, sinken die Fallzahlen dagegen und wir können auf einen Sommer mit mehr Freiheiten als 2020 hoffen.“