Prof. Andrea Edenharter Foto: Volker Wiciok

Nach Ansicht der Staatsrechtlerin Prof. Andrea Edenharter von der FernUniversität Hagen hat sich die Politik vor allem zu Beginn der Pandemie mit ihren Entscheidungen auf sehr dünnem Eis bewegt. Die Beschlüsse vom Juli zum Umgang mit regional begrenzten Ausbruchsgeschehen sind nach ihrer Ansicht ein sehr guter Ansatz, der dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit besser Rechnung trägt als pauschale Maßnahmen. Man müsse – auch nach einer getroffenen Entscheidung – immer wieder neu abwägen und viele Aspekte mitberücksichtigen. Wichtig sei Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Letztendlich kommt es immer auf den Einzelfall an. Frau Edenharter äußerte sich im Interview mit der FernUni. 

Angesichts der hohen Dynamik der Corona-Ausbreitung muss auch die Politik schnell angemessene Entscheidungen treffen, die gleichzeitig „gerichtsfest“ sind. Nach Ansicht der Staatsrechtlerin Prof. Andrea Edenharter hat sich die Politik vor allem zu Beginn der Pandemie mit ihren Entscheidungen auf sehr dünnem Eis bewegt. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Religionsverfassungsrecht und Rechtsvergleichung an der FernUniversität in Hagen arbeitet juristisch, nicht empirisch, macht also keine Umfragen, wertet keine Fragebögen aus. Sondern sie analysiert Maßnahmen im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit.

Frau Prof. Edenharter, die Zustimmung der Bevölkerung zu Corona-Schutzmaßnahmen sinkt. Ein Grund dafür ist wohl, dass sie vielen zu einschneidend sind. Wie sehen Sie als Staatsrechtlerin das?

Prof. Andrea Edenharter: Meine Grundüberzeugung ist: Öffentliche Kritik an fehlenden Rechtsgrundlagen für politische Entscheidungen muss erlaubt sein. Allerdings muss derartige Kritik sachbezogen sein und darf nicht gemeinsame Sache machen mit den haltlosen Parolen der populistischen Verschwörungstheoretiker. Soweit es Kritik wirklich auf eine rechtliche Reflexion der getroffenen Maßnahmen ankommt, kann sie eine gute Stütze für die Politik sein.

Die Beschlüsse vom Juli zum Umgang mit regional begrenzten Ausbruchsgeschehen sind ein sehr guter Ansatz, der dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit besser Rechnung trägt als pauschale Maßnahmen. Ich denke schon, dass man bei Problemen in einem begrenzten Bereich, also etwa bei einem lokalen Ausbruch, nicht einen ganzen Landkreis, eine ganze Stadt, mit z.B. einer Ausgangssperre belasten sollte. Aus juristischer Sicht ist es gegebenenfalls für eine kurze Zeit, einige wenige Tage etwa, zu verantworten, ein Stadtviertel oder einen Teil eines Kreises abzuschotten.

Man muss allerdings sagen: Ganz zu Beginn eines Ausbruchs wird man noch nicht sagen können, wie begrenzt er ist. Ein, zwei, drei Tage lang kann es vielleicht sogar verhältnismäßig sein, einen vergleichsweise großen Bereich mit einer Ausgangs- und Kontaktsperre zu belegen. Aber dann muss man gleichzeitig testen, um festzustellen, wer betroffen ist und wer nicht. Und wenn man das weiß, auf die kleinteiligeren Maßnahmen zurückgreifen.

Dabei geht es ja oft um Güterabwägungen zwischen Gesundheit, Reisefreiheit oder das Tragen von Masken. Gibt es eine „Hierarchie“ der Grundrechte?

Prof. Andrea Edenharter: Im deutschen Verfassungsrecht gibt es keine Hierarchie von Grundrechten. Allerdings steht die Menschenwürde über allem. Freilich kann es ohne Leben keine Menschenwürde geben. Genauso gut kann aber niemand ohne persönliche Freiheit in Würde leben.

Grundrechte betreffende Entscheidungen können lediglich im Wege der Abwägung getroffen werden: Man muss in jeder Situation die betroffenen Rechtsgüter und Grundrechte in einen angemessenen verhältnismäßigen Ausgleich bringen.

Wie soll eine Richterin oder ein Richter entscheiden, was wichtiger ist?

Prof. Andrea Edenharter: Das ist extrem schwierig, was man auch daran sieht, dass die verschiedenen angerufenen Gerichte teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Es gibt nur ganz wenige eindeutige Situationen.

So hat das Bundesverfassungsgericht nach einiger Zeit des Lockdowns gesagt, dass ein Verbot jeglicher Versammlungen unverhältnismäßig sei. Die Abwägung hier lautete: Schutz des Lebens und der Gesundheit und Schutz vor Überlastung des Gesundheitssystems einerseits gegen Versammlungsfreiheit andererseits. Auf Dauer, insbesondere vor dem Hintergrund sinkender Infektionszahlen, konnte der Gesundheits-, Infektions- und Lebensschutz nicht mehr alles andere überwiegen. Daher mussten Versammlungen unter bestimmten Voraussetzungen punktuell wieder zugelassen werden.

Ganz zu Beginn, als die Infektionszahlen sehr, sehr hoch waren, wurde natürlich der Lebens- und Gesundheitsschutz zu Recht höher bewertet als z.B. die Öffnung von Restaurants. Aber auch hier mussten wirtschaftliche Gesichtspunkte stets mitberücksichtigt werden.

Man muss also immer wieder neu abwägen und viele Aspekte mitberücksichtigen, insbesondere auch Gleichheitsfragen: Während des Lockdowns durften Einzelhandelsmärkte öffnen und von Lebensmitteln über Waschmaschinen und Schlauchboote alles verkaufen, während etwa reine Elektromärkte geschlossen bleiben mussten. Dass es hier zu einer aus meiner Sicht nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung kam, hätten sowohl Politik als auch die Gerichte früher berücksichtigen müssen.

Gibt es Hilfestellungen für Richterinnen und Richter, wie lange eine „harte“ Maßnahme rechtlich zulässig ist?

Prof. Andrea Edenharter: Es gibt keine Schablone, die vorschreibt, wie in einer konkreten Situation zu entscheiden ist. Die Richterinnen und Richter müssen jeweils anhand der gegebenen Situation vor Ort entscheiden. Dabei ist z.B. zu berücksichtigen, wie weit man mit dem Testen ist, was man über die Ausbreitung weiß usw.

Und auch Richterinnen und Richter sind Menschen. Bei allen Entscheidungen werden daher auch die eigenen Erwägungen der Richterinnen und Richter eine Rolle spielen. Daraus können sich divergierende Entscheidungen ergeben.

In einer noch schwierigeren Situation sind ja wahrscheinlich die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger. Was soll man ihnen raten?

Prof. Andrea Edenharter: Ich möchte zurzeit mit den Entscheiderinnen und Entscheidern in der Politik nicht tauschen. Was sie leisten und was unter hohem Zeitdruck geleistet wurde, verdient höchsten Respekt. Trotzdem: Die rechtsstaatlichen Grundsätze müssen beachtet werden. Bei jeder Entscheidung muss gefragt werden: Gibt es dafür eine Rechtsgrundlage? Wenn ja: Was lässt diese Rechtsgrundlage zu?

In den meisten Fällen entsprachen die Entscheidungen ja auch dieser Rechtsgrundlage. Teilweise wurden aber z.B. Allgemeinverfügungen erlassen, wo man eigentlich eine Rechtsverordnung hätte erlassen müssen. Es schwächt das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik, wenn Schutzmaßnahmen von den Gerichten wegen so etwas wieder aufgehoben werden.

Kann die Rechtsprechung der Politik helfen?

Prof. Andrea Edenharter: Die Rechtsprechung überprüft und kontrolliert lediglich die Entscheidungen der Politik und die Maßnahmen, die getroffen wurden, im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit. Verstößt eine Corona-Schutzverordnung gegen das Grundgesetz, wird sie vom zuständigen Gericht für nichtig erklärt. Andererseits schaffen die Gerichte keine eigenen Schutzmaßnahmen. Dies ist Sache der Politik. Darin kommt das Prinzip der Gewaltenteilung zum Ausdruck

Allerdings gibt das Bundesverfassungsgericht manchmal entsprechende Hinweise. Bei der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines pauschalen Gottesdienstverbots gab es z.B. bei der ersten Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz noch den Hinweis, dass ein pauschales Gottesdienstverbot noch verhältnismäßig sei, dies jedoch nicht auf Dauer gelte. Ein, zwei oder drei Wochen später wäre die gerichtliche Entscheidung vielleicht anders ausgefallen, wenn die Rechtsverordnungen in der Zwischenzeit nicht ohnehin angepasst worden wären.

Daraus kann man den Auftrag an die Politik lesen, eine eilig getroffene Entscheidung regelmäßig daraufhin prüfen, ob sie jetzt noch erforderlich ist. Außerdem ist es an der Politik, die getroffenen Maßnahmen zu begründen und zu erklären, da nur so die notwendige Akzeptanz erreicht werden kann. Sie sollte ihre Maßnahmen erklären und begründen.

Also ist es wenig sinnvoll, eine Entscheidung einfach nur als „alternativlos“ zu bezeichnen?

Prof. Andrea Edenharter: Aus meiner Sicht ja. Es können ja durchaus in bestimmten Situationen harte Einschnitte angezeigt sein, etwa bei massiven Ausbrüchen in einer bestimmten Region. Dann muss die Politik entsprechend reagieren. Aber man muss immer überlegen: Wie lange braucht es das wirklich? Wie kann es der Bevölkerung erklärt werden? Welche Rechtsgrundlagenstehen zur Verfügung? Und es müssen auch Expertinnen und Experten aus anderen Bereichen als der Virologie befragt werden: Welche „Nebenwirkungen“ haben diese Maßnahmen? Wie wirkt sich ein wochenlanger Lockdown z.B. auf häusliche Gewalt oder Suizidgefahren aus?

Diese zusätzlichen Informationen müssen dann aber auch die Gerichte berücksichtigen! Wenn man Erkenntnisse hat, dass eine Maßnahme zu einer Erhöhung der Suizidraten führt, zu Vereinsamung, zur Verschiebung unbedingt notwendiger Operationen, ist es zwingend, noch viel strenger zu prüfen, ob ein kompletter Lockdown wirklich erforderlich ist. muss.

Zu Beginn des Lockdowns hat man m.E. zu wenig darauf geachtet, wie sich die Maßnahmen auf andere Lebensbereiche auswirken. Konkret gilt dies etwa für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere für Frauen, die wegen der Schließung von Kinderbetreuungseinrichtungen vielfach gezwungen waren, ihre Berufstätigkeit zu reduzieren oder ganz aufzugeben.

Sehen Sie die Gefahr, dass mittel- oder langfristig die Stabilität der Demokratie – insbesondere im Hinblick auf Grundrechte – in Gefahr sein könnte?

Prof. Andrea Edenharter: Ich bin zuversichtlich, dass wir in Deutschland die Situation gut im Griff haben. Viele der Beschränkungen wurden ja zeitnah wieder zurückgenommen, etwa die kompletten Lockdown-Beschränkungen, Ausgangsbeschränkungen, Geschäftsschließungen. Was wir jetzt noch haben, sind Beschränkungen für bestimmte Geschäftszweige, etwa für Nachtclubs, Diskotheken, aber auch für bestimmte andere Freizeitangebote. So hart die Einschnitte für die betroffenen Betriebe auch sind: Dadurch ist die Demokratie als solche nicht in Gefahr, ebenso wenig wie durch die Maskenpflicht oder die Möglichkeit, sich die Corona-Warnapp herunterzuladen.

Mit einigen Ihrer Aussagen haben Politiker ihre eigenen Argumente untermauert, ohne Sie zu fragen. Wie stehen Sie dazu?

Prof. Andrea Edenharter: Das fand ich extrem ärgerlich. Ich habe mit den Leuten nicht gesprochen. Leider musste ich nach Rücksprache mit einem auf derartige Fälle spezialisierten Anwalt zu dem Schluss kommen, dass eine juristische Verfolgung im konkreten Fall aussichtlos war. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, meinen Standpunkt – nämlich hinreichende Rechtsgrundlagen zu fordern und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit anzumahnen – noch stärker in den Vordergrund zu stellen und mich so von populistischen Verschwörungstheoretikern abzugrenzen.

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