Symbolbild

Während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 ist der Zeitwohlstand leicht angestiegen und die allgemeine Lebenszufriedenheit blieb konstant. Im Durchschnitt haben Menschen pro Tag 27 Minuten länger geschlafen und 69 Minuten weniger gearbeitet. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede je nach Geschlecht und Beschäftigungssituation. So haben systemrelevant Beschäftigte beispielsweise einen geringeren Zeitwohlstand. Während des Corona-Lockdowns haben sie durchschnittlich 34,3 Stunden gearbeitet, während die wöchentliche Arbeitszeit bei anderen Beschäftigungsgruppen 29,2 Stunden betrug. Frauen waren insofern benachteiligt, als sie den Großteil der Betreuungspflichten übernehmen mussten.

Das sind die zentralen Ergebnisse einer Befragung, die im Rahmen des Forschungsprojektes „ReZeitKon – Zeit-Rebound, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum“ unter der Leitung von Prof. Dr. Ulf Schrader und Dr. Sonja Geiger vom Fachgebiet Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltiger Konsum der TU Berlin durchgeführt wurde. Dabei befragten sie sowohl im Februar als auch im April 2020 knapp 1.000 berufstätige Menschen. Unter Zeitwohlstand verstehen die Wissenschaftler*innen einen ausreichenden Umfang an frei verfügbarer Zeit. Dazu kommen ein angemessenes Tempo der zu verrichtenden Tätigkeiten, selbstbestimmte Bedingungen (Zeitsouveränität), Planbarkeit sowie die Vereinbarkeit verschiedener zeitlicher Anforderungen (Synchronisierung).

Für den Anstieg des subjektiv empfundenen Zeitwohlstands während des Corona-Lockdowns dürften verschiedene Entwicklungen ausschlaggebend gewesen sein, vermuten die Forscher*innen der TU Berlin. „Unsere Befragung ergab, dass die Menschen während des Corona-Lockdowns durchschnittlich weniger gearbeitet und länger geschlafen haben“, sagt Dr. Stefanie Gerold, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt. „Das führte dazu, dass Menschen ihren Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten und mehr Schlaf teilweise realisieren konnten. Gleichzeitig war auch eine gewisse Entschleunigung während des Corona-Lockdowns festzustellen“, so Dr. Sonja Geiger: „Das zeigte sich daran, dass zeiteffiziente Praktiken wie Multitasking oder Dinge immer schnell erledigen zu wollen deutlich abgenommen haben – das alles dürfte dazu beigetragen haben, dass der Zeitwohlstand gestiegen ist.“

Im Forschungsprojekt, das noch bis zum August 2021 läuft, wollen die Wissenschaftler*innen in den nächsten Monaten weiter untersuchen, welche Faktoren ausschlaggebend dafür sind, wie viel Zeitwohlstand Menschen empfinden, und wie sich dieser wiederum auf Wohlbefinden und nachhaltigen Konsum auswirkt. Trotz der generell positiven Entwicklungen bleibt zu berücksichtigen, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in ähnlichem Ausmaß über Zeitwohlstand verfügen. „Menschen in systemrelevanten Berufen, Frauen und Menschen mit Kindern empfinden tendenziell einen geringeren Zeitwohlstand“, so Dr. Sonja Geiger.

Beschäftigte in systemrelevanten Berufen sind tendenziell einer höheren Arbeitsbelastung ausgesetzt. Darunter fallen zum Beispiel Berufe im Gesundheits- und Pflegebereich, bei Polizei, Feuerwehr, im öffentlichen Nahverkehr, im Einzelhandel oder in öffentlichen Einrichtungen und Behörden sowie im Bildungs- und Erziehungssektor. Im Vergleich zu anderen Beschäftigungsgruppen arbeiten sie mehr und haben einen stärkeren Wunsch, die Arbeitszeit zu reduzieren. Während des Corona-Lockdowns sank die Arbeitszeit für systemrelevant Beschäftigte von durchschnittlich 37,5 auf 34,3 Stunden pro Woche. Für andere Beschäftigungsgruppen sank die Arbeitszeit deutlich stärker, nämlich von 36,9 auf 29,2 Stunden pro Woche. Zudem konnten Menschen in systemrelevanten Berufen weniger häufig ins Homeoffice wechseln.

Frauen leisteten mehr Betreuungsarbeit als Männer
„Die Art und Weise, wie Menschen ihre Zeit verwenden, ist auch stark geschlechtsspezifisch geprägt“, sagt Dr. Stefanie Gerold. Frauen verbringen deutlich weniger Zeit in Erwerbsarbeit, dafür verwenden sie mehr Zeit für unbezahlte Tätigkeiten wie Hausarbeit oder Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Personen. Während der Corona-Pandemie stiegen die Betreuungszeiten aufgrund geschlossener Schulen und Kitas für beide Geschlechter deutlich an. Frauen haben aber einen Großteil der zusätzlichen Kinderbetreuung übernommen, sodass sich der geschlechtsspezifische Unterschied während des Corona-Lockdowns sogar noch vergrößert hat. „Im Februar 2020 leisteten Frauen täglich durchschnittlich 116 Minuten Betreuungsarbeit und Männer 58 Minuten. Im April 2020 sind diese Werte auf 153 beziehungsweise 74 Minuten pro Tag angestiegen. Damit stieg der Unterschied zwischen Frauen und Männern von 58 auf 79 Minuten pro Tag an“, erklärt Dr. Stefanie Gerold.

Im Hinblick auf nachhaltigen Konsum konnten keine nennenswerten Änderungen beobachtet werden. Abgefragt wurden dabei Verhaltensweisen wie das Kaufen von Bio-Lebensmitteln oder Produkten mit Umweltsiegeln. Bei den suffizienten Konsumverhaltensweisen „gebraucht kaufen“ oder „mieten und leihen“ konnte ein leichter Rückgang festgestellt werden, was darauf zurückzuführen ist, dass entsprechende Angebote wie Flohmärkte oder Bibliotheken während des Lockdowns geschlossen waren. Nicht erhoben wurde jedoch, ob sich Änderungen bei Flugreisen oder im Heizverhalten ergeben haben. Eine dritte Befragungswelle ist für Anfang 2021 geplant. Dabei wollen die Forscher*innen untersuchen, inwiefern die während des Lockdowns teilweise erzwungene Entschleunigung als nun selbstbestimmtes Verhalten beibehalten wurde.

Das Projekt „ReZeitKon“ wird bis zum 31. August 2021 gefördert. Es wird im Rahmen der Sozial-ökologischen Forschung (SÖF) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Rebound-Effekte“ mit insgesamt 1.148.000 Euro finanziert. Partner im Verbund sind die Leuphana Universität Lüneburg (UNESCO Chair Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung) und das Fraunhofer Institut ISI Karlsruhe.

Die vollständige Auswertung finden Sie unter: www.rezeitkon.de

Website zum Projekt: www.zeit-rebound.de

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