Symbolbild

„Schieb den Gedanken nicht weg!“: So das Motto einer neuen Kampagne gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Sie will die Öffentlichkeit sensibilisieren, dass Missbrauch vor allem im engen Umfeld von Kindern stattfindet.

Ob in der Schulklasse des Sohnes. Unter den Freundinnen der Tochter. Bei den Kindern der Nachbarn und Bekannten. Bei befreundeten Familien und auch in der eigenen Verwandtschaft: Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann es überall geben. Jeden Tag – und auch und gerade im eigenen direkten Umfeld, in der Familie. Nach Schätzungen sind in Deutschland ein bis zwei Kinder pro Schulklasse von Missbrauch betroffen – bei rund drei Vierteln geschieht dies im persönlichen Umfeld.

Um die Öffentlichkeit stärker für die Gefahr von sexueller Gewalt in direkter Umgebung von Kindern und Jugendlichen zu sensibilisieren, gibt es jetzt eine neue, bundesweite Kampagne. Anlass ist der 8. Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt. Vorgestellt haben die Kampagne in Berlin die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, und Bundesfamilienministerin Lisa Paus. „Diesen Gedanken zuzulassen, dass ein Kind, das man kennt, sexuelle Gewalt erleidet, das fällt schwer. Aber genau deshalb machen wir diese Kampagne“, betonte Ministerin Paus. Und genau deshalb lautet die Botschaft: „Schieb den Gedanken nicht weg!“

Kampagne will Perspektivwechsel erreichen

Laut einer Forsa-Umfrage halten viele Erwachsene sexuelle Gewalt in ihrer Familie und im näheren Umfeld für unwahrscheinlich. Fast 90 Prozent der Befragten halten es für wahrscheinlich, dass sexualisierte Gewalt vor allem in Familien stattfindet. 85 Prozent halten es aber für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass sexualisierte Gewalt in ihrer eigenen Familie passiert oder passieren kann. Hier will die Kampagne ansetzen und einen Perspektivwechsel erreichen.

Missbrauch im engeren Umfeld wird oft verdrängt

Laut Lisa Paus verdrängen viele Menschen tatsächlichen oder vermuteten Kindesmissbrauch im Umfeld. Manche hätten natürlich Angst, Täter zu kennen, umso mehr, je näher sie einem stehen. Zudem wolle man auch niemanden zu Unrecht verdächtigen. Und viele wüssten nicht, wie sie sich zu verhalten und wie sie helfen könnten. „Aber wir Erwachsenen, wir haben die Verantwortung, für Kinder da zu sein. Wir haben die Verantwortung, einen Verdacht nicht wegzuschieben, ihn nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern ihm nachzugehen“, appellierte Ministerin Paus.

15.500 bekannte Fälle von Kindesmissbrauch verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2021. Mehr als 2.000 der betroffenen Kinder sind unter sechs Jahre alt. Die meisten Fälle spielen sich im persönlichen Umfeld ab. Wer Hilfe oder einen Rat braucht, kann sich anonym und vertraulich an das bundesweite Hilfetelefon sexueller Missbrauch wenden: 0800 2255 530. Fragen und Antworten bietet auch die Kampagnenseite www.hilfe-portal-missbrauch.de

Die Bildmotive und Videos der Kampagne sollen aufrütteln – und enthalten daher bewusst irritierende Aussagen, wie: „Geh nicht mit Fremden mit! – Und wenn es gar kein Fremder ist?“ oder „Mach niemandem die Tür auf – Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?“. „Die Kampagne hinterfragt über Jahrzehnte gelernte Denkmuster, irritierende Fragen kommen einem plötzlich ganz nah und zeigen auf das reale Risiko. Dort ist nicht der Fremde, sondern der Vertraute“, erklärte die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus.

Menschen sollen besser handeln können

Ziel der Kampagne sei es, allen Menschen ganz gezielt Handlungswissen an die Hand zu geben. Welche Alarmsignale gibt es? Wie erkenne ich sexuelle Gewalt? Was kann ich tun? Hilfe und Informationen soll jeder auch vor Ort finden können. Daher hob Kerstin Claus die hohe Bedeutung lokaler Netzwerke gegen sexuelle Gewalt hervor. Ein zentrales Kampagnenbüro soll Ideen und Informationen für Initiativen in den Kommunen und Gemeinden liefern. Bundesfamilienministerin Paus sicherte zu, gemeinsam mit der Unabhängigen Beauftragten die Situation der 350 Fachberatungsstellen weiter zu verbessern. Zudem fördert das Bundesfamilienministerium mit dem Modellprojekt „Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt“ den Ausbau von Fachberatungsstellen in ländlichen Regionen.

Seit Jahren setzt sich die Bundesregierung verstärkt gegen Kindesmissbrauch ein. Das seit 2010 bestehende Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde dauerhaft eingerichtet, das Strafrecht deutlich verschärft, die Aufklärungsmöglichkeiten von Straftaten verbessert und das sogenannte Cybergrooming noch effektiver unter Strafe gestellt. Vorgesehen ist nun u.a., die Arbeit der Unabhängigen Beauftragten gesetzlich zu verankern und den Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt zu verstetigen. Darüber hinaus ist geplant, die länderübergreifende Zusammenarbeit in Kinderschutzfällen zu verbessern und das Beratungs- und Onlineangebot des Bundes weiter auszubauen.

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